Auf die Wirkung kommt es an
Von Gustave Le Bon
Da die Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zugänglich sind, müssen sie sich, um volkstümlich zu werden, oft völlig umformen. Wenn es sich um hochwertige philosophische oder wissenschaftliche Ideen handelt, kann man die grundlegenden Veränderungen feststellen, deren sie bedürfen, um von Stufe zu Stufe bis zum Standort der Massen hinabzusteigen. Diese Veränderungen sind besonders abhängig von der Rasse, der die Masse angehört, doch sie verkleinern oder vereinfachen stets. Daher gibt es in Wahrheit vorn sozialen Gesichtspunkt keine Rangordnung der Ideen, d. h. mehr oder weniger hohe Anschauungen.
Schon durch die Tatsache, daß eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag, wird sie beinahe all dessen entkleidet, was ihre Größe und Erhabenheit ausmachte.
Der Wert einer Idee ihrer Rangordnung nach ist übrigens bedeutungslos; nur die von ihr erzeugten Wirkungen sind zu beachten. Die christlichen Ideen des Mittelalters, die demokratischen Ideen des 8. Jahrhunderts, die sozialistischen Ideen der Gegenwart stehen gewiß nicht besonders hoch, man kann sie in philosophischer Beziehung als ziemlich armselige Irrtümer betrachten, aber ihre Bedeutung war und ist ungeheuer, und noch lange werden sie die wesentlichsten Mittel zur Führung der Staaten bleiben. Aber selbst wenn die Idee die Veränderung durchgemacht hat, durch die sie für die Massen annehmbar wurde, wirkt sie nur, wenn sie – durch verschiedene Vorgänge, die noch zu erforschen sind – in das Unbewußte eingedrungen und zu einem Gefühl geworden ist. Diese Umwandlung dauert im allgemeinen sehr lange.
Man darf nicht glauben, eine Idee könne durch den Beweis ihrer Richtigkeit selbst bei gebildeten Geistern Wirkungen erzielen. Man wird davon überzeugt, wenn man sieht, wie wenig Einfluß die klarste Beweisführung auf die Mehrzahl der Menschen hat. Der unumstößliche Beweis kann von einem geübten Zuhörer angenommen worden sein, aber das Unbewußte in ihm wird ihn schnell zu seinen ursprünglichen Anschauungen zurückführen. Sehen wir ihn nach einigen Tagen wieder, wird er aufs neue mit genau denselben Worten seine Einwände vorbringen. Er steht tatsächlich unter dem Einfluß früherer Anschauungen, die aus Gefühlen gewachsen sind; und nur sie wirken auf die Motive unserer Worte und Taten.
Hat sich aber eine Idee endlich in die Seele der Massen eingegraben, dann entwickelt sie eine unwiderstehliche Macht, und es ergibt sich eine ganze Reihe von Wirkungen. Die philosophischen Ideen, die zur Französischen Revolution führten, brauchten fast ein Jahrhundert, um in der Volksseele Wurzel zu fassen. Man weiß, welche unwiderstehliche Gewalt sie dann entfalteten. Der Ansturm eines ganzen Volkes zur Eroberung der sozialen Gleichheit, zur Verwirklichung begrifflicher Rechte und idealer Freiheiten erschütterte die abendländische Welt bis auf den Grund. Zwanzig Jahre lang fielen die Völker übereinander her, und Europa lernte Hekatomben kennen, die mit denen des
Dschingiskhan und Tamerlan zu vergleichen sind. Nie trat so klar zutage, was die Leidenschaft der Ideen, die die Fähigkeit haben, die Richtung der Gefühle zu ändern, hervorbringen kann.
Ideen brauchen lange Zeit, um sich in der Masse festzusetzen, und sie brauchen nicht weniger Zeit, um wieder daraus zu verschwinden. Auch sind die Massen in bezug auf Ideen immer mehrere Generationen hinter den Wissenschaftlern und Philosophen zurück. Alle Staatsmänner wis-
sen heute, wieviel Irrtum in den Grundideen steckt, die ich soeben anführte; da aber ihr Einfluß noch sehr stark ist, so sind sie genötigt, nach Grundsätzen zu regieren, an deren Wahrheit sie nicht mehr glauben.
(Aus Gustave Le Bon, "Psychologie der Massen", 1895)