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Politisch begabte Völker gibt es nicht

Von Oswald Spengler

Zum Begriff der ausübenden Gewalt gehört, daß eine Lebenseinheit – schon unter Tieren – in Subjekte und Objekte der Regierung zerfällt. Das ist so selbstverständlich, daß diese innere Struktur jeder Masseneinheit selbst in den schwersten Krisen wie der von 1789 auch nicht einen Augenblick verloren geht. Nur der Inhaber verschwindet, nicht das Amt, und wenn wirklich ein Volk im Strom der Ereignisse jede Führung verliert und regellos dahintreibt, so bedeutet das nur, daß seine Führung nach auswärts verlegt, daß es als Ganzes Objekt geworden ist.

Politisch begabte Völker gibt es nicht. Es gibt nur Völker, die fest in der Hand einer regierenden Minderheit sind, und die sich deshalb gut in Verfassung fühlen. Die Engländer sind als Volk ebenso urteilslos, eng und unpraktisch in politischen Dingen wie irgendeine andere Nation, aber sie besitzen eine Tradition des Vertrauens, bei allem Geschmack an öffentlichen Debatten. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß der Engländer Objekt einer Regierung von sehr alten und erfolgreichen Gewohnheiten ist, der er zustimmt, weil er den Vorteil davon aus Erfahrung kennt. Von dieser Zustimmung, die nach außen als Verständnis erscheint, ist es nur ein Schritt zur Überzeugung, daß diese Regierung von seinem Willen abhängt, obwohl es umgekehrt sie ist, die ihm diese Ansicht aus technischen Gründen immer wieder einhämmert.

Die regierende Klasse in England hat ihre Ziele und Methoden ganz unabhängig vom »Volk« entwickelt, und sie arbeitet mit – in – einer ungeschriebenen Verfassung, deren im Gebrauch entstandene völlig untheoretische Feinheiten dem Nichteingeweihten ebenso undurchsichtig wie unverständlich sind. Aber der Mut einer Truppe hängt vom Vertrauen auf die Führung ab; Vertrauen, das heißt unwillkürlich Verzicht auf Kritik. Der Offizier ist es, der Feiglinge zu Helden oder Helden zu Feiglingen macht. Das gilt von Heeren, Völkern, Ständen wie von Parteien. Politische Begabung einer Menge ist nichts als Vertrauen auf die Führung. Aber sie will erworben werden; sie will langsam reifen, durch Erfolge bewährt und zur Tradition geworden sein. Mangel an Führereigenschaften in der herrschenden Schicht ist es, was als mangelndes Gefühl der Sicherheit bei den Beherrschten zum Vorschein kommt, und zwar in jener Art von instinktloser, sich einmischender Kritik, die durch ihr bloßes Vorhandensein ein Volk außer Form geraten läßt.

»Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt«, meinte W.v. Humboldt auf dem Schlachtfeld von Waterloo. Aber die Persönlichkeit Napoleons hat die Geschichte der nächsten Jahrhunderte im voraus geformt. Die guten Verse – er hätte doch einmal einen Bauern am Wege nach ihnen fragen sollen. Sie bleiben – für den Literaturunterricht. Plato ist ewig – für Philologen. Aber Napoleon beherrscht uns alle innerlich, unsere Staaten und Heere, unsere öffentliche Meinung, unser ganzes politisches Sein, und um so mehr, je weniger es uns zum Bewußtsein kommt.
(Aus Oswald Spengler, "Der Untergang des Abendlandes")