Ukraine: Gedankensplitter zur fast eingefrorenen Front, Putins Lage und Russlands Perspektiven
Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist
Die zugesagte militärische Unterstützung an modernen Waffen und Gerät durch westliche Staaten an die Ukraine verzögert sich – auch durch Deutschland. Instandsetzung und Ausbildung sind wohl nacheinander erfolgt. Das kostete Zeit, die man nicht hatte.
Es geht schneller, wenn man ein intaktes Fahrzeug zur Ausbildung nutzt und zeitgleich ein defektes Fahrzeug instand setzt oder aber ein weiteres intaktes Fahrzeug zur Ausbildung abstellt. Es ist ein Kampf um Zeit. Es muss das Ziel sein, die jeweilige Übernahme zu beschleunigen.
Die Folge ist, dass die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Gegenoffensive nicht die notwendige Durchschlagskraft erreichen konnten. Die russischen Streitkräfte haben die Zeit genutzt – z.B. durch starke Befestigung ihrer Verteidigungsanstrengungen. Beobachter sprechen von den „21 Meilen der Hindernisse“ für die ukrainischen Angriffskräfte. Ohne ausreichendes Artilleriefeuer und durch die mangelnde Luftunterstützung wird die ukrainische Gegenoffensive verlangsamt. Es macht wenig Sinn, die modernen Kampfpanzer weitgehend allein den Angriff führen zu lassen. Hohe Ausfälle dieser Kampfpanzer sind die Folge.
Das „Gefecht der verbundenen Waffen“ mit Unterstützung durch Erdkampfflugzeuge und Kampfdrohnen ist die „hohe Schule“ für einen erfolgreichen Kampf der Bodenkampftruppen. Beide Seiten erreichen kleine Geländegewinne, die das große Bild allerdings nicht verändern: Abnutzungskrieg, den Putin bevorzugt, um den Krieg in die Länge zu ziehen. Er sieht für Russland auf lange Sicht größere Vorteile bei seinen Truppen in der Fähigkeit, Reserven zu schaffen und zur Verstärkung einzusetzen.
Das Chaos in der russischen Führung war ein großer Vorteil für die Ukraine
Der überraschende militärische Angriff der Wagner-Truppe unter Führung des kriegserfahrene Prigožin von Rostow am Don in Richtung Moskau hat die russische Führung offensichtlich überrascht. Das Hauptquartier der Russen konnte die Wagnertruppe kampflos übernehmen. Bis rd. 200 Km vor Moskau gab es kaum Widerstand – im Gegenteil gab es gelegentlichen Beifall auf den Straßen.
Es ist unverständlich, dass zwischen Rostow am Don und Moskau keine operativen Reserven gab, die die Wagner-Truppen hätten aufhalten können. Es ist bis heute noch nicht klar, was Prigožin veranlasst hat, den Vormarsch abzubrechen und nach Rostow zurückzumarschieren. Sehr bald gab es auf russischer Seite wichtige Personalentscheidungen:
Verteidigungsminister Schoigu wurde aus dem Verkehr gezogen und nicht mehr gesehen. Dem Oberbefehlshaber Gerassimow der russischen Truppen wurde die Befehlsgewalt entzogen. General Gerassimow war der General, den Prigožin am schärfsten kritisiert und persönlich beleidigt hat. War seine Absetzung ein Geschenk an den Wagner-Chef?
Es stellte sich heraus, dass die „Wagnertruppe“ komplett vom Verteidigungsministerium bezahlt worden war – einschließlich deren Einsätze in Afrika. Der Deal – von Putin initiiert – wurde angeblich vom belarussischen Diktator Lukaschenko zu Papier gebracht. Prigožin und seine Truppen sollen nach Belarus „verlegt“ werden. Surowski, der wegen seiner Brutalität den Beinamen „General Armageddon“ erhalten hatte, wurde festgenommen und verhört. Er wurde verdächtigt, den „Marsch nach Moskau“ mit Prigožin abgesprochen zu haben, was offiziell nicht bestätigt wurde.
Prigožin durfte offiziell nicht mehr nach Russland zurückkehren. Er wurde jedoch in seiner Heimatstadt St. Petersburg gesehen. Sein Vermögen durfte er aus seinem Haus mitnehmen. Er ist Oligarch und vermutlich Milliadär. Er war bei seinen Söldnern wegen seiner Professionalität hoch angesehen. Ein brutaler Menschenführer. Angeblich hat es nach Ende des Zwischenfalls ein Gespräch mit Putin und Prigožin gegeben, dessen Ergebnis jedoch nicht bekannt wurde.
Die Schwächung der militärischen Führung hat sich nach außen wenig ausgewirkt. Allerdings – Putin gilt als geschwächt. Seine Autorität ist angeschlagen. Er soll noch vorsichtiger und misstrauischer geworden sein. Er soll sich nicht im Kreml aufgehalten haben. Michael Chodorkowski ist in seinem Exil in London hervorragend informiert. Neben Alexej Navalny ist er der schärfste Kritiker Putins. Natürlich ist er in einem Straflager in Russland in seinen Aktivitäten deutlich eingeschränkt. Allerdings hat er ein kleines Team, das ihn in seiner Arbeit mutig unterstützt. Es wird spannend, wer die verlassenen hohen Posten im Kreml besetzen wird.
Einige bemerkenswerte Einzelerfolge der Ukraine
Russland hat sog. „Kamikazepanzer“ voller Sprengladungen eingesetzt. Sie sollen ferngesteuert ukrainische Einrichtungen zerstören. Bei einem der ersten Einsätze ist ein derartiger Panzer durch ukrainische Kräfte komplett zerstört worden. In der Ukraine – einschließlich der Halbinsel Krim – stationierte Partisanenkämpfer führen Sabotageanschläge gegen russische Partisanen und deren Versorgungseinrichtungen durch. Es sind Gruppen wie „Legion Freiheit Russlands“ und „Russisches Freiwilligen“, die behaupten, nicht von der Ukraine geführt zu werden. Sie überschreiten die russisch-ukrainische Grenze, führen ihre Anschläge durch und kehren in die Ukraine zurück. Diese Anschläge zwingen Russland dazu, Truppen aus der Front abzuziehen und als „operative Gruppen“ im Hinterland einzusetzen.
Ukrainischen Truppen ist eine Teileinkreisung von Bachmut gelungen. Bachmut ist für beide Seiten nicht von „strategischer Bedeutung“, sondern die hohen Verluste verleihen der teilzerstörten Stadt „Symbolcharakter“.
Ein Wort zu den russischen Soldaten
Sie wenden sich an Putin über das Internet und beklagen ihre dramatische Lage. Ihr Fazit: „Keine Verpflegung. Kein Wasser. Nichts“. Sie fordern von Putin die Beseitigung der Mängel in der Verpflegung und fordern Putin auf, geeignete Mittel für ihren Kampf zu liefern. Die Moral der kämpfenden Truppe ist wichtiger als manche Waffen in den Depots. Für mich ist es kein Wunder, dass bei den russischen Soldaten die Zahlen von Fahnenflucht deutlich zunehmen.
Wie geht es weiter?
Die ukrainische Führung muss die Einsatz- und Kampffähigkeit sowie den Ausbildungsstand der Soldaten und ihrer Führer überprüfen und – falls notwendig – austauschen und ergänzen. Bei den westlichen Unterstützern muss eine aufkommende Kriegsmüdigkeit bekämpft werden. Diese müssen die versprochenen Waffen und Geräte rasch liefern. Es geht um einen Krieg, nicht um eine Übung. Diese Staaten müssen bei jeder NATO-Tagung motiviert werden – auch im kleinen Kreis – den militärischen Sieg zu erreichen.
Eine gute Analyse stammt von dem Sicherheitsexperten der SPD, Ralf Füchs: „Zu wenig – zu spät“. Diese Analyse sollte auch in der „Ampelkoalition“ gelesen werden.
(conservo.blog)