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Bangemachen gilt nicht

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Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt

Von Theodor W. Adorno

Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei »zu subjektiv«. Wird das geltend gemacht und gar mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt.

Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken - also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen Urteile.

Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des »Stils«, deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht.

Das ist doppelt wahr in der Ära des Positivismus und der Kulturindustrie, deren Objektivität von den veranstaltenden Subjekten kalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends, und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet, denen die Willkür der Gewalthaber Willkür vorwirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen, aus Angst vor der Objektivität, die allein bei diesen Subjekten aufgehoben ist.
(Aus "Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben" von Theodor W. Adorno)

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