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G20-Gipfel: weder Fleisch noch Fisch

Vielleicht gefällt Kanzler Scholz das Ergebnis deshalb gut!

Von Peter Helmes

„Neues Miteinander“ in der Welt – Das diesjährige Spitzentreffen der führenden Industrie- und Schwellenländer ging erstaunlich glatt über die Bühne. Hauptprofiteur ist Indiens Premier Narendra Modi, der Gastgeber des G20-Gipfels.

Zum Abschluß hat der indische Premierminister Narendra Modi sein eigenes Land gelobt. Indien sei gut aufgestellt, um die Kluft in der Gruppe der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer zu überbrücken und globale Probleme zu lösen, sagte Modi in der Hauptstadt Neu Delhi. Er schlug in diesem Zusammenhang einen virtuellen Gipfel der G20 Ende November vor, um den Stand der Anregungen und Vorschläge der Mitgliedsstaaten zu bewerten und zu bestimmen “wie ihre Fortschritte beschleunigt werden können”.

Modi vollzog zugleich den Übergang der G20-Präsidentschaft, indem er den zeremoniellen Hammer an Brasiliens Staatschef Luiz Inacio Lula da Silva weitergab. Das nächste G20-Treffen findet im kommenden Jahr in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro statt. Offiziell dauert der Vorsitz Neu Delhis aber noch bis Ende November an.

Scholz: “Ein Gipfel der Entscheidungen“
Bundeskanzler Olaf Scholz lobte die Konferenz als “Gipfel der Entscheidungen”. Es seien wichtige Beratungen gewesen, sagte Scholz in Neu Delhi. Bei großen Fragen wie dem Klimawandel seien die Staaten “nicht zurückgefallen”, sondern blieben weiter ambitioniert. Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine sagte Scholz, die G20 hätten ein “klares Bekenntnis” abgegeben, daß die territoriale Integrität der Ukraine “außer Frage steht” und Grenzen nicht mit Gewalt verschoben werden dürften. Zudem hätten sich die Staaten klar gegen den Einsatz von Nuklearwaffen positioniert.

Der Kanzler betonte zudem das “neue Miteinander zwischen den klassischen Staaten des Nordens in Europa und im Norden Amerikas und den Ländern im Süden Amerikas, Asiens und Afrikas”. Diese Kooperation habe es möglich gemacht, Entscheidungen zu treffen, “bei denen Russland akzeptieren mußte, daß die Weltgemeinschaft die gewalttätigen Prinzipien russischer Politik nicht richtig findet, sondern sich dagegen stellt.” Der G20 gehörten bisher 19 Länder und die Europäische Union an. Gleich zu Beginn des Treffens wurde die Afrikanische Union (AU) als 21. Mitglied aufgenommen.

Erklärung zu Krieg in Ukraine problematisch
Bereits am Samstag hatten sich die Gipfelteilnehmer auf eine gemeinsame Abschlußerklärung unter anderem zum Ukraine-Krieg und zum globalen Klimaschutz geeinigt. Darin werden “alle Länder” aufgefordert, auf den “Einsatz von Gewalt” zur Erzielung von “Geländegewinnen” zu verzichten. Die Erklärung war weicher formuliert als das G20-Kommuniqué vom vergangenen Jahr und verurteilte Moskau nicht direkt. Die Ukraine hat den Text als zu schwach kritisiert.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow wertete denn auch den G20-Gipfel als diplomatischen “Erfolg”. Moskau habe “die Versuche des Westens, die Themensetzung des Gipfels zu ‘ukrainisieren'”, verhindern können, sagte Lawrow in Neu Delhi. In der Abschlußerklärung werde Russland “überhaupt nicht erwähnt”.

Gipfelteilnehmer an Gandhi-Gedenkstätte
Zum Ende ihres Gipfels hatten die Staats- und Regierungschefs den indischen Freiheitshelden Mahatma Gandhi gewürdigt. Nach morgendlichen Monsunregenfällen lief Premierminister Modi mit seinen Gästen durch Pfützen zur Gedenkstätte Raj Ghat, wo Gandhi nach seiner Ermordung 1948 eingeäschert worden war. Nach der Einspielung einer hinduistischen Hymne verharrte die Gruppe in einem Moment der Andacht und legte dann Blumenkränze zu Ehren der Friedensikone ab.

US-Präsident Joe Biden war unter denjenigen Gästen, die sich für den Besuch Filzpantoffeln anzogen, anstatt dem geltenden Barfußgebot zu folgen. Viele andere, darunter der britische Premierminister Rishi Sunak, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzler Scholz, zogen sich zusammen mit Modi ihre Schuhe und Socken aus, um zu dem Marmorsockel zu schreiten, wo eine ewige Flamme Gandhis Vermächtnis am Leben erhalten soll.

Die Zeremonie war Teil von Modis perfekt inszeniertem G20-Gipfel, dessen Erfolg der Premierminister eng mit seiner eigenen Person verbunden hat. Vor den indischen Wahlen im kommenden Jahr nutzt Modi das Treffen, um sich seinen Landsleuten als internationaler Staatsmann zu präsentieren. Bilder Modis zierten im Vorfeld Plakate und Bushaltestellen im ganzen Land, um die Zusammenkunft der wichtigsten Volkswirtschaften der Welt als nationalen Triumph zu feiern.

Unmut der US-Presse über Biden
US-Präsident Biden nahm an der letzten Arbeitssitzung des Gipfels nicht mehr teil, sondern brach zu einem Besuch nach Vietnam auf. Während seines rund 24-stündigen Aufenthalts in der Hauptstadt Hanoi will Biden mit den Spitzenpolitikern der Kommunistischen Partei zusammentreffen und dann eine Pressekonferenz geben. Es ist der erste richtige Presseauftritt Bidens im Umfeld des G20-Gipfels, was bei der US-Presse für großen Unmut sorgte.

Dieses Wochenende wird als Auftakt einer neuen Phase der indischen Diplomatie in Erinnerung bleiben. Vor dem Treffen ist viel Tinte dafür verschwendet worden, wie schwierig es doch sein werde, einen Konsens zu finden. Und wie kompliziert es doch sei, 20 Nationen von einer gemeinsamen Agenda zu überzeugen, die geopolitisch und ideologisch so wenig gemeinsam haben. Das auch nur zu versuchen, schien vielen nahezu unmöglich – nicht zuletzt wegen der außergewöhnlichen Herausforderungen, vom Krieg in der Ukraine bis zur allgegenwärtigen Bedrohung des Klimawandels. Und dann verkündete Premier Modi schon am ersten Tag des Gipfels, daß die Abschlußerklärung offiziell angenommen wurde. Indiens Gipfelorganisator Amitabh Kant sprach von einem beispiellosen globalen Konsens – ohne Fußnoten oder abweichende Meinungen.

In die Abschlußerklärung wurde die Formulierung „russische Invasion“ nicht mit aufgenommen. Das kann man zwar als großen Rückschritt bewerten. Und von Seiten der Ukraine kommt bereits deutliche Kritik. Andererseits gibt es in der Erklärung auch Formulierungen wie die eines gerechten, nachhaltigen Friedens für die Ukraine. In Neu-Delhi haben die Staats- und Regierungschefs es wohl bevorzugt, daß überhaupt eine Erklärung zustande kommt.

Eine, die in die Zukunft ausgerichtet ist, um die G20 als internationalen Rahmen beizubehalten. Diese Entscheidung ist strategisch gar nicht schlecht. Denn die G20 sind eines der Foren, um sich mit dem Globalen Süden zu befassen. Das zeigt auch die Aufnahme der Afrikanischen Union. Der Durchbruch wurde erleichtert, weil Indien sich die Unterstützung der aufstrebenden Wirtschaftsmächte Brasilien, Südafrika und Indonesien sichern konnte.

Die Bedeutung der Erklärung läßt sich nicht nur daran ablesen, daß verschiedene Seiten einer Kompromiß-Formulierung zur Ukraine zugestimmt haben. Vielmehr zeigte sich auch der wachsende geopolitische Einfluss Indiens; denn die Staaten haben Prioritäten akzeptiert, die Premier Modi vorgab.

Die Erklärung katapultiert Indien geradezu in den Status einer Führungsnation des globalen Südens – auch weil das Land erfolgreich für die Aufnahme der Afrikanischen Union in die G20 eintrat. Das trägt auch dazu bei, den chinesischen Einfluß in Afrika etwas abzuschwächen. Der Beitritt der AU ist die bislang größte Aufnahme von Schwellenländern in eine mächtige Gruppierung – und das auf einen Schlag.

…und nicht einmal viel Reis
Beim G20-Gipfel stand auch die globale Lebensmittelsicherheit auf der Tagesordnung. Das ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Allerdings hätte Indien als zweitgrößter Produzent von Reis und Weizen mehr tun können. Die Vereinten Nationen haben sich zum Ziel gesetzt, daß bis 2030 kein Mensch mehr hungern muß. 2022 litten aber weltweit noch mehr als 700 Millionen Menschen an Hunger. Schätzungen zufolge wird sich diese Zahl bis 2030 lediglich um 100 Millionen reduzieren.

Die indische Regierung bezeichnet sich gern als Sprecherin des globalen Südens. Zugleich hat sie aber leider vor einem Jahr und in diesem Juli Verbote für Reisexporte angeordnet. Die Weltmarktpreise für Getreide sind daraufhin umgehend gestiegen. Es ist gut, daß dieses Problem im Format der G20 thematisiert wurde. Es bedarf jedoch mehr internationaler Zusammenarbeit im Kampf gegen den Klimawandel und in der nachhaltigen Entwicklung und Modernisierung der Landwirtschaft. China soll und will einen Beitrag dazu leisten.

Bei einer vom Westen – und in erster Linie von den USA – dominierten Welt macht China nicht mehr mit. Nach Neu-Delhi ist der chinesische Präsident Xi Jinping gar nicht erst angereist, er schickte seinen Regierungschef. Xi rückt derweil noch ein wenig näher an Putin heran, als er es in den vergangenen zwölf Monaten bereits getan hat. Ein G20-Treffen ohne Chinas De-facto-Alleinherrscher ist ein bißchen so, als fliege man um die halbe Welt, um die Rolling Stones zu sehen – und dann treten die Scorpions auf. Die Abwesenheit Xis in Neu-Delhi gilt China-Kennern als Indiz dafür, daß Chinas Staatschef intensiv daran arbeitet, ein Gegengewicht zum Westen aufzubauen. Die multipolare Welt, von der Bundeskanzler Scholz so oft und so gern spricht, entwickelt sich gerade – und zwar schneller, als es vielen recht sein kann. Und in eine Richtung, die im Westen eher Ernüchterung hervorruft als Euphorie.

Kritisches
Bundeskanzler Scholz wertete das Treffen öffentlich als „sehr erfolgreich“. Für die Menschen in der Ukraine muß sich das wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen. Die Bundesregierung zückt das Scheckbuch und liefert für Milliarden Euro Waffen und Gerät ins Kriegsgebiet. Neben der materiellen ist die ideelle Unterstützung aber wohl mindestens ebenso wichtig, und die fehlte in Neu-Delhi völlig. Die Ukraine war, auch auf Druck Chinas und Russlands, von Indien nicht eingeladen worden. Selbst eine Zuschaltung von Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video kam nicht zustande. Scholz hätte andere Möglichkeiten gehabt, als diesen Zirkus mitzumachen.

Allerdings war es diesmal für die Wirtschaftsmächte schwieriger als vor einem Jahr in Indonesien, sich auf eine Abschlußerklärung zu verständigen. Die Einigung ist ein noch erträglicher Kompromiß. Das ist gut. Das ist aber auch schon alles. Gegen Putin hilft allein die Widerstandsfähigkeit von Staaten, die der Ukraine das Recht zusprechen und verteidigen, das sie selbst für sich in Anspruch nehmen: Nicht angegriffen und zerstört zu werden. Diese Formulierung hat Eingang in die G20-Erklärung gefunden mit dem Respekt vor der ‚territorialen Integrität‘. Russland bleibt am Pranger.

Die offizielle Spaltung der Welt hat der G20-Gipfel der wichtigsten Wirtschaftsnationen noch einmal aufschieben können. Abgewendet ist sie nicht – sollte nicht noch ein politisches Wunder geschehen, ist sie sogar unausweichlich. Aus wirtschaftlicher und politischer Furcht vor den BRICS-Staaten um China, Russland und Indien haben die Spitzen der westlichen Welt einer windelweichen G20-Schlußerklärung zugestimmt, die im Gegensatz zum Vorjahr auf die ausdrückliche Verurteilung des barbarischen russischen Kriegs gegen die Ukraine verzichtet. Dieses Lavieren wird den globalen Bedeutungsverlust des Westens aber nicht stoppen können.

Worthülsen und Formelkompromisse
Der Bestand der G 20 ist damit fürs Erste gesichert, ihre Bedeutung noch nicht. Die Aufnahme der Afrikanischen Union könnte sie attraktiver machen und verhindern, daß der von China dominierte BRICS-Verbund weiter an Gewicht gewinnt. Daß diese und andere Staatengruppen heute eine größere Rolle in der Weltpolitik spielen als vor einigen Jahren, ist auch Ausdruck eines Bedeutungsverlusts der Vereinten Nationen. Das Problem ist nicht nur der Sicherheitsrat, dessen Zusammensetzung und Kompetenzen, Stichwort Veto, nicht mehr in die Zeit passen. Eine multipolare Welt ist vor allem eine der Bündnisse, nicht der globalen Zusammenarbeit.

Die G20-Abschlußerklärung ist letztlich ein Formelkompromiß: Wenn sowohl Russland und China als auch die EU und der Bundeskanzler sie als Erfolg verkaufen können, ist sie so wachsweich, daß jeder daraus lesen kann, was er möchte. Es war mühsam, überhaupt festzuhalten, daß es einen ‚Krieg in der Ukraine‘ gibt. Der russische und der chinesische Präsident blieben dem Gipfel fern. Was folgt daraus für Europa? Die Annahme, daß die G 20 den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als zentralen Konflikt begreift und sein baldiges Ende für sie Priorität hat, ist falsch. Für andere mächtige Staaten und kleinere aufstrebende Länder des Südens ist es ein regionaler Konflikt, für dessen Lösung sie es sich nicht mit großen Ländern wie China und Russland verderben möchten. Europa und die USA stehen in ihrer Solidarität mit der Ukraine weitgehend allein.

Fazit
Die G20-Präsidentschaft ist ein großer Triumph für Indiens Premier Modi. Während Kritiker darauf bestehen mögen, daß die Abschlußerklärung die Ukraine-Frage herunterspielt, konzentrierte sich Indien auf das große Ganze. Dabei ging es sowohl um die Auswirkungen des Krieges auf der ganzen Welt als auch um all die anderen Themen, die als Kollateralschaden enden würden, wenn der Gipfel der Staats- und Regierungschefs nicht zu einem Konsens über die Erklärung gekommen wäre.

Das Ergebnis – und es wird immer welche geben, die dies bestreiten – war im Vergleich zu den Ergebnissen von Bali eine viel nuanciertere und detailliertere Betrachtung der Ukraine. Doch die Ukraine ist nicht glücklich. Die westlichen Länder wollten Moskau für die Invasion verurteilen, und Russland behauptete, es würde jede Erklärung blockieren, die nicht seine Position widerspiegelte. Und plötzlich geschah das Wunder: Es kam zu einer Einigung. Lediglich die Ukraine, die kein Mitglied der G20 ist, erklärte, die Gruppe habe ‚nichts, worauf sie stolz sein könnte.

Für die Ukraine enttäuschend
Daß es in der Abschlußerklärung nicht ‚Russlands Angriffskrieg‘ sondern ‚Krieg in der Ukraine‘ heißt, ist nach Ansicht der Ukraine ein Zugeständnis, das Russland zufriedenstellen soll. Tatsächlich stellt man eine Aufweichung der Sprache im Vergleich zur Erklärung aus dem Vorjahr fest. Aber: was würde es denn nutzen, wenn eine Abschlußerklärung im Sinne der Ukraine herausgekommen wäre? Die Antwort: Gar nichts. Weder würden der Krieg beendet noch die Probleme der Ukraine gelöst.

Es mag enttäuschend sein, daß nur eine halbherzige Formulierung in die Abschlußerklärung aufgenommen wurde, aber angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Welt steht, ist es immerhin erfreulich, daß die G20 intakt geblieben ist.

Lob für den Gastgeber kommt aus Taipeh: „Daß das Gipfeltreffen mit Erfolg abgeschlossen wurde, ist vor allem der Balancekunst Neu Delhis zur verdanken. Einen Konsens zum Krieg in der Ukraine zu erzielen, war eine fast unmögliche diplomatische Aufgabe. Doch dem Gastgeber gelang es, die USA und die wichtigsten europäischen Staaten zu Kompromissen zu bewegen. Gleichzeitig mußten auch Peking und Moskau in manchen ihrer Positionen nachgeben.

Diplomatie ist oft nur Augenwischerei
In der Tat gelang dem Gastgeber Narendra Modi ein diplomatisches Meisterstück, indem er eine Schlußerklärung formulieren ließ, die von den USA, Russland und China unterzeichnet wurde. Zugleich handelt es sich bei dem Text um eine Anhäufung von Allgemeinplätzen.

Als mächtiger Gastgeber konnte sich der Premier als Vaterfigur eines neuen Indien gerieren, das selbstbewußt seinen eigenen Weg geht. Doch daheim fördert die indische Regierung Entwicklungen, die weit entfernt von inklusiver Politik sind. Da wird zwar mit vielem, was unter die Kategorie ‚koloniales Erbe‘ fällt, aufgeräumt, aber im Zuge dessen wird eine spezielle hindunationalistische Vision Indiens realisiert, die autoritärer und weniger demokratisch ist und über Minderheiten drüberfährt. Die hochrangigen Gäste in Delhi hielten sich mit offener Kritik vielleicht auch deshalb zurück, weil sie Indien als starken Partner in Asien brauchen.
(conservo.blog)

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