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Russland

Revolution und Bürgerkrieg 1917-1921

Von Vera Lengsfeld

„Beklemmend aktuell mutet die Geschichte Russlands von 1917-1921 an“, so wirbt Bertelsmann für das monumentale Geschichtswerk von Sir Antony Beevor. Der Autor ist bekannt für seine Werke über den Zweiten Weltkrieg und den Spanischen Bürgerkrieg. Nun hat er sich den Oktoberputsch der Bolschewiki und den von ihnen entfesselten Bürgerkrieg vorgenommen. Was er berichtet ist beklemmend und teilweise schwer zu ertragen, aber wichtig, um die längst überfällige Korrektur des gängigen Geschichtsbildes der siegreichen Oktoberrevolution zu beschleunigen.

Leider spricht der Verlag auf der Rückseite des Buches immer noch von Oktoberrevolution, obwohl Beevor belegt, dass es sich um einen Putsch gehandelt hat – erst gegen die nach dem Sturz des Zaren von der Februarrevolution (da stimmt der Begriff, denn es handelte sich um einen Aufstand der Massen gegen das zaristische Regime) eingerichtete Provisorische Regierung, dann gegen die demokratisch gewählte Verfassungsgebende Versammlung, in der die Bolschewiki nicht die erhoffte Mehrheit hatten.

Interessant sind vor allem die Porträts der Akteure auf beiden Seiten. Beevor hat dafür zahllose Briefe, Tagebücher und andere persönliche Dokumente ausgewertet.

Lenin, um nur ein Beispiel zu nennen, war ein rücksichtsloser Scharfmacher, der die Machtübernahme seiner Kaderpartei mit brutalstem Terror herbeigeführt hat. Persönlich war dieser Mann ein Feigling, der sich Im Spätfrühling und Sommer lieber in Finnland versteckte, von wo er seine bolschewistischen Akteure zu erbarmungsloser Härte anfeuerte. Als die Weißen auf Petrograd vorrückten, fragte Lenin, ob man nicht 10 000 Bolschwiken und 20 000 Einwohner aufstellen könnte, die mit Hilfe von Maschinengewehren gegen die Weißen getrieben werden könnten. Die sollten so demoralisiert und zum Rückzug bewegt werden. Es kam nicht dazu, diese mörderische Idee umzusetzen, weil die Weißen auf Grund ihrer chaotischen Kriegsführung und internen Streitigkeiten den Vormarsch stoppten.

Im Zweiten Weltkrieg erlebte die Leninsche Idee Auferstehung, als die Soldaten der Roten Armee mit Wodka abgefüllt und untergehakt mit Maschinengewehrfeuer gegen die deutschen Stellungen getrieben wurden. Trotzki, der das Oberkommando im Bürgerkrieg hatte, fuhr ab und zu im Panzerzug an die Front, wenn es brenzlig wurde. Er stand an brutaler Tötungsbereitschaft Lenin in nichts nach. Die Rivalitäten zwischen Stalin und Trotzki, waren schon im Bürgerkrieg virulent. Stalin, der sich vor allem auf den Chef der Tscheka, Felix Dzershinsky, stützte, gelang es immer wieder, trotzkitreue Generäle und Kommandeure wegen „Verrats“ hinrichten zu lassen. Vor allem aber war es Aufgabe der Tscheka, in den von den Bolschewiki eroberten Gebieten Terror zu verbreiten. Der richtete sich nicht nur gegen vermutete oder tatsächliche Anhänger der Weißen, sondern gegen die Bevölkerung, die sich den Plünderungen und Requirierungen widersetzte.

Wer nur erschossen wurde, hatte noch Glück, selbst wenn er sein Grab selbst ausheben und sich anschließen entkleiden musste. Die unglücklicheren Opfer wurden mit säbeln zerhackt, gefesselt in Hochöfen oder Lokomotivfeuer geworfen, ihnen wurden, Augen ausgestochen, Ohren abgeschnitten, Zungen rausgerissen, bevor sie endlich vom Tod erlöst wurden. Eine beliebte Foltermethode der Tscheka war „Handschuhe“ herzustellen. Dafür wurden die Hände der Opfer in kochendes Wasser gesteckt, bis sich die haut löste. Auch vor Kindern machte die Mordlust nicht Halt, Beevor dokumentiert einen Fall, dass Rotarmisten einem Bauern seine einzige Kuh wegnehmen wollten. Der Bauer sagte, er könne die Kuh nicht hergeben, da er Milch für sein Kind bräuchte. Da rissen die Armisten dem Mann das Kind aus dem Arm und schlugen es mit dem Kopf gegen die Wand. Beevor belegt das alles mit Namen und Adresse. Der rote Terror, der gerechtfertigt wurde mit der Behauptung, anders wären die Feinde nicht zu besiegen, entfaltete seine schlimmsten Züge erst nach dem Ende des Bürgerkrieges.

Übrigens war auch die Februarrevolution nicht so gewaltfrei, wie es den Anschein hat. Auch die Revolutionäre verübten Morde, an Polizisten und zaristischen Offizieren. Den Terror zu systematisieren, blieb aber den Bolschewiki vorbehalten.

Beevor erzählt eine absurde Szene: Zum Jahreswechsel 1918/1919 hatte Dzershinsky im Kreml einen Nervenzusammenbruch. Er flehte Lenin und andere Anwesende an, ihn zu erschießen. Er hätte so viel Blut an den Händen und verdiente nicht mehr zu leben.

Die Weißen waren keineswegs Waisenknaben, sondern mordeten und folterten ihrerseits die Bolschwiken, die ihnen in die Hände fielen. Sie verloren die Unterstützung der Bevölkerung, indem sie wie die Roten plünderten und requirierten. Erst kurz vor ihrer endgültigen Niederlage machte der letzte Kommandeur Wrangel den Plünderungen ein Ende und den Bauern ein Angebot, Landbesitz an sie aufzuteilen. Vor allem hatten die Weißen kein wirkliches Konzept, was sie mit Russland vorhatten, sollten sie siegen. Sie waren ein zu heterogener Haufen, von Sozialrevolutionären bis hin zu Zarentreuen. Aber in ihren Reihen gab es zahllose Glücksritter, die den Bürgerkrieg nutzten, um Beute zu machen. Die Weiße Armee zog endlose Trosse mit Beutewagen hinter sich her, die oftmals die Kampfhandlungen behinderten.

Beevor zitiert einen Historiker, der gesagt hat, es hätte sich in Russland weniger um einen Bürgerkrieg, als um einen kleinen Weltkrieg gehandelt. Da ist etwas dran. Auf beiden Seiten kämpfte ein Völkergemisch. Auf Seiten der Weißen Tschechen und Polen, unterstützt von Engländern, Franzosen und Amerikanern. Auch Deutsche und Rumänen, hauptsächlich Kriegsgefangene, auf beiden Seiten. Lenins Prätorianergarde bestand aus Letten und in Sibirien kämpften Chinesen für die Roten.

Es gab zahlreiche Seitenwechsler. Oft waren die Kombattanten nur von Nahem zu erkennen, denn die Uniformen waren zum Teil von der Gegenseite erbeutet worden. Die Roten wurden nicht nur wegen ihrer Fahnen so genannt, sondern sie waren von der Farbe rot besessen und ließen sich Mäntel, Jacken und Hosen aus rotem Stoff fertigen. Das betrifft vor allem die Kommandeure, die einfachen Soldaten gingen in Lumpen und hatten oftmals nicht einmal Schuhe.

Erstaunlich ist, wie viele rote und weiße Kommandeure von Schriftstellerinnen begleitet wurden. Manche rote, wie weiße Kommandeure, reisten mit ganzen Orchestern. Ein roter Kommandeur hatte in seinem Zug sogar zwei: Eins für klassische Musik, eins für Volksweisen. Der Komponist Sergei Prokofjew begegnete einem Roten Kommandeur auf einer Musik-Soiree. Der prahlte erst damit, zweihundert Menschen während seiner letzten Aktion eigenhändig getötet zu haben und verlangte dann „zärtliche Musik“.

Am Ende des Bürgerkrieges hatten die Weißen nur einen Erfolg: Es gelang den Polen, den Vormarsch der Roten auf Warschau zu stoppen und Polens Unabhängigkeit zu sichern.

Der letzte Sieg der Bolschewiki war der über die Kronstädter Matrosen. Die hatten von den unsäglichen Bedingungen gehört, denen die hungernde Bevölkerung von Petrograd ausgesetzt war. Sie verabschiedeten eine Resolution, in der sie Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und freie Abstimmungen forderten. Trotzki, der die Matrosen eins den „Ruhm der Revolution“ genannt hatte, befahl den Angriff, Ausgeführt wurde er von Michail Tuchaschwski. Das spätere Stalinopfer war einer der grausamsten Bürgerkriegskommandeure. Das stellte er wieder unter Beweis. Nach der Niederschlagung des Aufstands gab es Massenhinrichtungen. Die Matrosen starben mit dem Ruf: „Es lebe die Weltrevolution!“.

Beevors Fazit: Die Weißen haben durch moralischen Zusammenbruch verloren, weil sie sich benahmen wie ihr Feind.

„Es gab jedoch einen ebenso subtilen wie wichtigen Unterschied: Allzu oft repräsentieren die Weißen die schlimmsten Seiten der Menschheit. Aber in puncto rücksichtsloser Unmenschlichkeit waren die Bolschewiki unschlagbar.“

Der Rest ist ein Sieg der Propaganda über die mörderische Realität.

Antony Beevor: Russland – Revolution und Bürgerkrieg 1917-1921
(vera-lengsfeld.de)

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