Sonderansprache von Präsidentin von der Leyen auf dem Weltwirtschaftsforum
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Klaus,
die Lektüre des jährlichen Weltrisikoberichts ist gleichzeitig verblüffend und ernüchternd. Nicht Konflikte oder Klimafragen werden die größte Herausforderung für die Weltwirtschaft in den nächsten beiden Jahren sein. Sondern Desinformation und Falschinformation, dicht gefolgt von einer Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaften. Das sind ernst zu nehmende Risiken, denn sie schränken unsere Fähigkeiten ein, den großen globalen Herausforderungen zu begegnen, mit denen wir konfrontiert sind: Veränderungen unseres Klimas wie auch unseres geopolitischen Klimas. Demografische und technologische Umbrüche. Zunehmende regionale Konflikte und verstärkter geopolitischer Wettbewerb und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Lieferketten. Die ernüchternde Wahrheit ist, dass die einzelnen Länder wieder stärker in Konkurrenz zueinander stehen als in den zurückliegenden Jahrzehnten. Und dadurch wird das Motto des diesjährigen Treffens in Davos umso relevanter. „Vertrauen wieder herstellen“ – jetzt ist nicht die Zeit für Konflikte oder Polarisierung. Es ist die Zeit, Vertrauen aufzubauen. Es ist die Zeit, mehr denn je weltweit zusammenzuarbeiten. Angesichts der Größe der globalen Herausforderungen brauchen wir sofortige, strukturelle Antworten. Ich glaube, dass das möglich ist. Und ich glaube, dass Europa bei der Formulierung dieser globalen Antworten an der Spitze stehen kann und muss.
Dazu sollten wir zunächst den Weltrisikobericht eingehender studieren, um den weiteren Weg abzustecken. Die Lösungen sind vielfach nicht nur in der Zusammenarbeit zwischen Ländern zu finden. Ganz entscheidend ist die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Regierungen – Unternehmen und Demokratien. Nie zuvor war es so wichtig, den öffentlichen und den privaten Sektor enger miteinander zu verzahnen. Denn keine der genannten Herausforderungen macht an Grenzen halt. Jede von ihnen erfordert Zusammenarbeit, um die Risiken eindämmen und den Weg in die Zukunft ebnen zu können. Und genau darüber möchte ich heute sprechen.
Die Regierungen haben zwar viele der Hebel in der Hand, um den großen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, doch die Unternehmen verfügen über Innovation, Technologie und Talente, die wir benötigen, um Bedrohungen wie den Klimawandel oder groß angelegte Desinformation bekämpfen zu können. Niemand kann besser zeigen als Europa, wie dies funktionieren kann. Weil es im Interesse unserer Demokratien und unserer Unternehmen liegt, Wohlstand und Sicherheit für die Menschen zu schaffen, für ein stabiles, innovations- und investitionsfreundliches Umfeld zu sorgen und Chancengleichheit und Freiheit zu gewährleisten. Dies ist gerade jetzt wichtiger denn je, zum Auftakt des Jahres 2024 – eines der größten Wahljahre der Geschichte. Weltweit werden die Menschen in Demokratien an die Wahlurnen gerufen. Dies betrifft rund die Hälfte der Weltbevölkerung. Darunter auch mehr als 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union. Einer Union aus 27 Demokratien, in denen wir alle das Recht haben, unsere Meinung zu äußern, wir selbst zu sein, auch wenn wir anders sind als die meisten anderen Menschen. In einer Demokratie bestimmen die Menschen durch ihre Entscheidungen und ihr Verhalten, wer auf der wirtschaftlichen Bühne als Gewinner und wer als Verlierer dasteht. Unternehmen stehen in freiem Wettbewerb miteinander. Wer offen für Veränderungen ist, hat die Möglichkeit, innovativ zu sein. Wirtschaftlicher Erfolg beruht auf Leistung. Und durch unsere Vorschriften sorgen wir für den Schutz des geistigen Eigentums und von Wirtschaftsdaten sowie die Sicherheit der Ersparnisse von Menschen und Unternehmen. Und Europa steht ein für einen Welthandel auf der Grundlage fairer und offener Märkte.
Natürlich birgt unsere Freiheit – wie in allen Demokratien – auch Risiken. Es wird immer Versuche geben, unsere Offenheit auszunutzen, und zwar sowohl von innen als auch von außen. Es wird immer Versuche geben, uns zum Beispiel durch Desinformation und Falschinformationen aus der Spur zu bringen. Das beste Beispiel dafür ist die Lage in der Ukraine. Deshalb möchte ich Ihnen hier einige Fakten nennen. Russland verfehlt seine strategischen Ziele. Das ist in erster Linie ein militärisches Scheitern. Wir erinnern uns: Als Russland in die Ukraine einmarschierte, befürchteten viele, dass Kiew in nur wenigen Tagen und der Rest des Landes innerhalb weniger Wochen fallen würde. Doch das ist nicht passiert. Stattdessen hat Russland etwa die Hälfte seiner militärischen Schlagkraft verloren. Die Ukraine hat Russland aus der Hälfte der Gebiete vertrieben, die es eingenommen hatte. Die Ukraine hat die russische Schwarzmeerflotte zurückgedrängt und wieder einen Seekorridor geöffnet, über den Getreide in die ganze Welt geliefert werden kann. Und die Ukraine hat sich ihre Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt. Aber Russland scheitert auch wirtschaftlich. Durch Sanktionen ist die Wirtschaft des Landes von modernen Technologien und Innovationen abgeschnitten. Russland ist nun von China abhängig. Und schließlich scheitert Russland auch auf diplomatischem Gebiet. Finnland ist der NATO beigetreten. Schweden wird bald folgen. Und die Ukraine ist näher denn je an die Europäische Union herangerückt.
All dies zeigt uns, dass die Ukraine in diesem Krieg bestehen kann. Aber wir müssen sie in ihrem Widerstand weiter stärken. Die Ukraine benötigt Planbarkeit bei der Finanzierung im gesamten Jahr 2024 und darüber hinaus. Sie benötigt kontinuierliche Waffenlieferungen, um sich zu verteidigen und ihr rechtmäßiges Hoheitsgebiet zurückzuerobern. Die Ukraine braucht die Abschreckungsfähigkeit, um weitere Angriffe Russlands zu verhindern. Aber die Menschen dort brauchen auch Hoffnung. Sie müssen wissen, dass sie ihren Kindern durch ihren Kampf eine bessere Zukunft bereiten. Und die bessere Zukunft der Ukraine heißt Europa. Mit großer Freude haben wir im vergangenen Monat beschlossen, mit der Ukraine EU-Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Das wird ein historischer Erfolg der Ukraine sein. Und Europa stellt sich seiner historischen Aufgabe.
Meine Damen und Herren,
wir alle wissen, dass die russische Invasion auch Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten und die Unternehmenskosten hier in Europa hat. Ich weiß, wie stark einige Ihrer Unternehmen davon betroffen sind. Aber – wie ich zu Beginn gesagt habe – die Risiken, mit denen wir konfrontiert sind, erfordern eine Zusammenarbeit zwischen Ländern und Unternehmen, und unsere gemeinsame Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, ist viel größer als wir vielleicht glauben. Und nirgends wird das deutlicher als bei Energie und Nachhaltigkeit. Vor zwei Jahren, vor dem russischen Angriff gegen die Ukraine, stammte jede fünfte Energieeinheit, die in der Europäischen Union verbraucht wurde, aus Russland. Diese hohe Abhängigkeit von Russland wurde weithin als Risiko erkannt, insbesondere nach der Besetzung der Krim durch Russland. Und dann kam Russlands Einmarsch in die Ukraine. Russland hatte Europas Anfälligkeit bereits erhöht, indem es die Gasspeicher bewusst nicht im üblichen Umfang befüllt hatte. Und angesichts des heldenhaften Widerstands der Ukrainerinnen und Ukrainer und der europäischen Solidarität beschloss Putin, dass es an der Zeit wäre, Europa direkt zu bedrohen, indem er die Gaslieferungen einstellte und Energie als Waffe einsetzte.
Putins Beschlüsse haben bei uns allen Blessuren hinterlassen. Wir waren mit schwierigen Entscheidungen und Unsicherheiten konfrontiert, vor allem während der Winter. Aber wir haben die richtige Wahl getroffen. Nur zwei Jahre später hat Europa sein energiepolitisches Schicksal wieder in die eigenen Hände genommen. Vergangenes Jahr kam nur noch eine von zwanzig in der Europäischen Union verbrauchten Energieeinheiten aus Russland. Gewiss hat die Krise die Dynamik der europäischen Wirtschaft gebremst, doch die Furcht vor einem wirtschaftlichen Kollaps hat sich als unbegründet erwiesen. Und jetzt sind die Energiepreise gesunken und auch während des jüngsten Kälteeinbruchs Anfang Januar niedrig geblieben. Die Gasspeicher sind weiterhin gut gefüllt. Europa hat bei der Verbesserung der Krisenfestigkeit seines Energiesystems echte Fortschritte erzielt. Wie war das möglich? Weil wir zusammengearbeitet haben. Weil wir gut funktionierende und offene Märkte und gute Freunde in aller Welt hatten, die in die Bresche gesprungen sind und die alternative Versorgung gestärkt haben. Weil wir einen Binnenmarkt hatten, der es uns die Lenkung der Energieströme dorthin ermöglichte, wo sie gebraucht wurden. Vor allem aber, weil wir uns bei der Umstellung auf saubere Energie ins Zeug gelegt und in saubere, effiziente und erneuerbare Zukunftstechnologien investiert haben.
Die europäischen Industrien und Unternehmen haben hier eine zentrale Rolle gespielt. Die jüngsten Zahlen der Internationalen Energie Agentur zeigen, dass das Kapazitätswachstum bei erneuerbaren Energien in der Europäischen Union 2023 einen neuen Rekordwert erreicht hat. Und dass die Europäische Union die Effizienz ihres Energieverbrauchs – die beste Energie ist diejenige, die nicht verbraucht wird – um fast fünf Prozent gesteigert hat. Auf diese Weise haben wir aus Putins Kampfansage eine große neue Chance gemacht. Im vergangenen Jahr hat die Europäische Union erstmals mehr Strom aus Wind- und Sonnenenergie als aus Gas erzeugt. Und in diesem Jahr wird die Europäische Union erstmals insgesamt mehr Energie aus Windkraft und Photovoltaik beziehen als aus Russland. Das sind gute Neuigkeiten. Doch wir dürfen angesichts dieser Gründe, optimistisch zu sein, eine wichtige Lehre aus der Krise nicht vergessen: Die übermäßige Abhängigkeit von einem Unternehmen, einem Land, einem Handelsweg birgt Gefahren. Deshalb legt der europäische Grüne Deal so großes Gewicht nicht nur auf die Senkung der Emissionen, sondern auch auf eine starke, wettbewerbsfähige Präsenz Europas auf den neuen Märkten für saubere Energie. Dazu gehört auch eine europäische Führungsrolle bei Technologie, Entwicklung und Innovation im Bereich der sauberen Energie.
Meine Damen und Herren,
lieber Klaus,
lassen Sie mich auf das wichtigste Thema des Weltrisikoberichts zurückkommen: Desinformation und Falschinformation. Sie zu bekämpfen stand seit Beginn meines Mandats für uns im Mittelpunkt. Mit unserem Gesetz über digitale Dienste haben wir festgelegt, wo die Verantwortung der großen Internetplattformen für die von ihnen geförderten und verbreiteten Inhalte liegt. Verantwortung gegenüber Kindern und gefährdeten Gruppen, die Hetze ausgesetzt sind, aber auch Verantwortung gegenüber unseren Gesellschaften insgesamt. Weil die Grenze zwischen online und offline immer durchlässiger wird. Und die Werte, für die wir offline einstehen, auch online geschützt werden müssen. Das ist in dieser neuen Ära der generativen KI umso wichtiger.
Jetzt hat das Weltwirtschaftsforum die künstliche Intelligenz in seinem Weltrisikobericht ganz oben auf die Liste potenzieller Gefahren für das kommende Jahrzehnt gesetzt. Zunächst einmal sollten wir aber nicht vergessen, dass die KI auch eine sehr große Chance bietet, wenn sie verantwortungsvoll genutzt wird. Ich bin Tech-Optimistin. Und als ausgebildete Ärztin weiß ich, dass die KI schon jetzt das Gesundheitswesen revolutioniert. Das ist gut. Die KI kann in beispiellosem Tempo die Produktivität steigern. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und der globale Wettlauf ist zweifelsohne bereits in vollem Gange. Unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit hängt von der Einführung der KI im täglichen Geschäftsbetrieb ab. Und Europa muss sich ins Zeug legen und den Weg für eine verantwortungsvolle Nutzung der KI weisen. Einer künstlichen Intelligenz, die die menschlichen Fähigkeiten steigert, die Produktivität verbessert und im Dienst der Gesellschaft steht. Wir sollten dort investieren, wo wir einen Wettbewerbsvorteil haben. Beispielsweise verfügt Europa über Fachkräfte. Es gibt in Europa fast 200 000 Softwareingenieure mit KI-Erfahrung. Das ist eine größere Konzentration als in den Vereinigten Staaten und China. Und unser Kontinent hat auch einen enormen Wettbewerbsvorteil bei Industriedaten. Wir können künstliche Intelligenz an Daten von unübertroffener Qualität schulen. Und darin wollen wir investieren. Deshalb werden wir europäischen Start-ups und KMUs Zugang zu unseren Weltklasse-Supercomputern bieten, damit sie ihre großen KI-Modelle entwickeln, trainieren und testen können. Das ist vergleichbar mit dem, was Microsoft an seinen eigenen Supercomputern für ChatGPT tut. Wir werden auch gemeinsame europäische Datenräume in den Dienst von Start-ups stellen. Und wir werden riesige Datenmengen in allen EU-Sprachen zur Verfügung stellen, weil KI auch für nicht englischsprachige Nutzer da sein sollte. Das ist das neu zu erschließende Grenzland im Wettbewerb. Und Europa ist in einer guten Startposition, um bei der industriellen KI führend zu sein – bei der Nutzung von KI, um kritische Infrastrukturen intelligent und nachhaltig umzugestalten.
Als wir vor vier Jahren unsere Ämter antraten, sahen wir die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene klare Leitlinien für die Entwicklung und den Einsatz von KI vorzugeben. Das ist der Grundgedanke hinter dem europäischen Gesetz über künstliche Intelligenz, dem ersten dieser Art weltweit und einem weiteren Beispiel dafür, wie Demokratien und Unternehmen sich gegenseitig stärken können. Mit dem Gesetz über künstliche Intelligenz wird Vertrauen gebildet, indem Hochrisikofälle wie die biometrische Echtzeit-Identifizierung ins Visier genommen werden. Und durch diese Vertrauensbildung werden Unternehmen in die Lage versetzt, in allen anderen Bereichen innovativ zu sein und das Beste aus dieser neuen, revolutionären Technologie herauszuholen.
Meine Damen und Herren,
unsere Welt durchlebt ein Zeitalter von Konflikten und Konfrontationen, von Fragmentierung und Furcht. Erstmals seit Generationen steht die Welt nicht an einem einzelnen Wendepunkt. Sie steht an einer Vielzahl von Wendepunkten, mit Risiken, die sich überschneiden und gegenseitig verstärken. Und ohne Zweifel sind wir mit dem größten Risiko für die Weltordnung in der Nachkriegsgeschichte konfrontiert. Für mich besteht dennoch kein Zweifel daran, dass wir mit Optimismus und Entschlossenheit voranschreiten können. Ja, die Risiken, mit denen wir es zu tun haben, sind real und präsent. Aber um uns den Risiken zu stellen, müssen wir auch Risiken eingehen – gemeinsam. Das ist es, was Europa stets getan hat. Die Europäische Union zeigt sich immer dann von ihrer besten Seite, wenn sie Mut beweist, wie wir allein in den letzten Jahren am europäischen Grünen Deal, NextGenerationEU, der Unterstützung der Ukraine oder der Bewältigung der Pandemie sehen konnten. Die kommenden Jahre verlangen von uns dieselbe Einstellung. Und ich glaube, dass die gemeinsame Stärke unserer Demokratien und unserer Unternehmen und Industrien hier zentral sein wird. Unsere Unternehmen leben von der Freiheit – innovativ zu sein, zu investieren und zu konkurrieren. Aber die gewerbliche Freiheit beruht auf der Freiheit unserer politischen Systeme. Deshalb bin ich der Ansicht, dass unsere gemeinsame und dauerhafte Aufgabe darin besteht, unsere Demokratie zu stärken und sie vor Risiken und Eingriffen zu schützen. Vertrauensbildung ist nötiger denn je, und Europa ist bereit, hier eine Schlüsselrolle zu spielen.
Vielen Dank.
(europa.eu/)