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Das französische Dilemma

Verkalkuliert sich Marine Le Pen erneut?

Von WOLFGANG HÜBNER

Unser Nachbarland Frankreich, Deutschlands wichtigster EU-Partner, befindet sich im offenen Aufruhr. Denn mit provokativer Arroganz hat Präsident Emmanuel Macron große Teile seines Volkes in Zorn und Widerstand getrieben. Selbst wenn sich die Situation auf den Straßen wieder beruhigt haben sollte, wonach es derzeit keineswegs aussieht, wird der Mann der „Märkte“ und der Reichen seine restliche Zeit im Amt unter dem Schutz der Prügelpolizei und des Militärs verbringen müssen – Demonstrationen und Kundgebungen zu seiner Unterstützung wird es kaum mehr geben.

Bei genauerem Hinsehen auf die Lage in Frankreich war diese Entwicklung keine Überraschung. Denn Macron verdankt seine zweite Amtsperiode allein der Tatsache, dass seine Gegenkandidatin bei der Stichwahl Marine Le Pen war. Und diese Politikerin der sozialpatriotischen Rechten wollten die Linken links des Rheins unter keinen Umständen wählen. Damit sind wir schon beim ersten großen Dilemma in Frankreich: Gerade die Linken und Gewerkschaften, die jetzt besonders militant gegen Macrons Anmaßungen bei der Rentenreform vorgehen, haben mit ihrer Blockade gegen Le Pen und deren Partei „Rassemblement National“ (RN) Macron wieder auf den Thron gehoben.

Nach wie vor deutet wenig darauf hin, dass sich diese Blockade auflösen wird. Und die Linke selbst ist nicht stark genug, um sowohl Le Pen auszumanövrieren und Macron zu stürzen. Letzteres könnte nur mit einer massiven, langandauernden Streikbewegung unter den arbeitenden Schichten gelingen. Das ist nicht ausgeschlossen, aber wenig wahrscheinlich. Und zwar auch deshalb, weil breite Teile der arbeitenden Schichten Le Pen-Wähler sind. Doch deren Idol übt zwar scharfe Kritik an Macron, hütet sich aber, zum offenen außerparlamentarischen Kampf gegen ihn zu mobilisieren. Damit ist das zweite Dilemma in Frankreich angesprochen: Le Pen und ihre Partei hoffen (nicht ohne Grund), bei der nächsten Präsidentenwahl auf parlamentarischem Weg an die Macht im Staat zu kommen.

Doch gibt es keine Garantie, dass bis dahin nicht eine politische Figur aufgebaut wird, die es versteht, mit linksliberalem Gedöns sowohl für die Bourgeoisie als auch für die Linke wählbar zu sein. Dann hätte sich Marine Le Pen erneut verkalkuliert und wäre die Frustration in Frankreich nach der zu erwartenden Entzauberung des neuen Hoffnungsträgers riesengroß. Es gibt wohl nur einen Ausweg: Le Pen und ihre Partei müssen zumindest Teile der Linken, insbesondere der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Angestellten, zur Formierung einer neuen Volksfront auf ihre Seite ziehen. Und das ist nicht nur der Schlüssel zum Erfolg in Frankreich.
(pi-news.net)

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