Zwischen zehn und zwölf kriegen wir es auf einmal mit der Frömmigkeit
Von Kurt Tucholsky
Am Sonntag vormittag gibt es in Berlin – und in allen deutschen Städten – zwischen zehn und zwölf Uhr nichts zu kaufen. Die Läden sind geschlossen, die Postanstalten geben keine größeren Mengen Briefmarken ab – zwischen zehn und zwölf Uhr ist Sonntag. Um drei Viertel zehn Uhr nicht, auch nicht um Viertel eins – aber zwischen zehn und zwölf. Warum?
Einen Tag in der Woche soll der Mensch ruhen. Wäre dies nur ein rein moralisches Gebot, so würde sich bald keiner mehr darum scheren, die Kaufleute und die großen Verbände würden, gepeitscht von der Konkurrenz, den Ruhetag bald illusorisch gemacht haben, und mit dem Sonntag wäre es nichts. Der Staat hat also eingegriffen und Verordnungen erlassen: »Am Sonntag soll nicht gearbeitet werden. Ausnahmen – die nun einmal sein müssen–regle ich.« So sagte der Staat, aber nach welchen Erwägungen regelt er sie denn?
Nach rein kirchlichen. Nun ist der Sonntag ursprünglich von der Kirche eingesetzt worden. Auf dem Dorf ist heute noch der richtige alte Sonntag, wie er einmal überall verlebt wurde: zwischen zehn und zwölf findet Gottesdienst statt, das ganze Dorf sitzt in der Kirche, und infolgedessen ruht die Arbeit. Man brauchte gar nicht anzuordnen, die Läden geschlossen zu halten, denn es wäre gar keiner da, der sie offen hielte. Soweit gut.
Aber wie liegt denn die Sache mit dem Sonntag in der großen Stadt? In der heutigen großen Stadt? Es ist sehr schwer, dergleichen bei uns ruhig zu erörtern, weil man fortwährend von links und rechts unterbrochen wird: da mengen sich die Glaubenseiferer und die Atheisten[75] in den Streit, und beide geht er eigentlich gar nichts an. Denn dies ist eben keine rein kirchliche Frage, heute ist sie das nicht mehr, sondern es ist eine wirtschaftliche, die aus Zweckmäßigkeitsgründen heraus entschieden werden sollte.
Es ist eine Tatsache – die wir hier einmal leidenschaftslos betrachten wollen, daß der Kirchenbesuch in den großen Städten, und ganz besonders in denen mit überwiegend protestantischer Bevölkerung, sehr schwach ist. Welche Gründe das hat, bleibe ganz dahingestellt. Fest steht, daß der Durchschnittsbürger, daß der Arbeiter sonntags nicht in die Kirche geht, sondern sich ausschläft, einen Spaziergang macht, Freunde besucht, ins Grüne fährt. Die große Stadt, die Mittelstadt – sie haben kein charakteristisches kirchliches Sonntagsgepräge mehr, wenn man darunter ein völlig anders geartetes Straßenbild versteht. Man sieht wohl hier und da geputzte Menschen – aber das ist auch alles. Die Lokale sind voller als am Alltag, ebenso wie die Straßenbahnen (wenn das noch möglich ist) – sonst geht alles seinen alten Gang. Wohlverstanden: im Privatleben des einzelnen – denn die Läden sind zu.
Und sie sind geschlossen, weil der Angestellte, weil der Prinzipal sich ausruhen will und muß. Sie sind aber nicht aus metaphysischen Gründen geschlossen, nicht, weil das Seelenheil der in ihnen Beschäftigten das erheischt.
Man hat sich – um jede Konkurrenz auszuschalten – auf eine allgemeine Sonntagsruhe geeinigt. Aber man sah sich genötigt, Ausnahmen zu machen: die Theater spielen, die Feuerwehr ruht nicht, das Telefon auch nicht, die Schutzleute stehen auf ihrem Posten – das mag im einzelnen kleine Einschränkungen erfahren –, diese Betriebe und noch einige andere funktionieren aber doch, trotz des Sonntags.
Wir kennen diesen englischen Sonntag nicht, der das Musizieren und gar das Kartenspielen und alles verbietet, was auch nur von ferne einer Arbeit gleich sieht. Wir sind laxer und ruhen uns aus – jeder nach seiner Art.
Und haben nun allerhand Ausnahmen machen müssen – wir erlauben den Lebensmittelgeschäften und den Blumenläden und einigen anderen, auch am Sonntag den Leuten das Nötigste zu verkaufen. Und zwischen zehn und zwölf –?
Da nicht. Zwischen zehn und zwölf kriegen wir es auf einmal mit der Frömmigkeit, und was uns die ganze Woche und die ganzen anderen Sonntagsstunden nicht einfällt: hier – zwischen zehn und zwölf – fällts uns ein.
Das ist nicht nur eine Überhebung der wenigen Kirchenbesucher über die andern – das ist vor allem in praktischer Beziehung der helle Wahnsinn. Dem Angestellten ist der Sonntag zerrissen, und der Käufer muß sich mit seinen Besorgungen nach einer Regel richten, die gar[76] nicht mehr zu seinen sonstigen Lebensgepflogenheiten paßt, die aus ganz anderen Verhältnissen heraus geboren ist – ärgerlich klopft er an eine geschlossene Tür und wird erst durch sie erinnert – »ja, richtig!« –, daß zwischen zehn und zwölf – – was eigentlich? Daß die Läden geschlossen sind. Warum? Das kümmert ihn nicht.
Es wird hier keiner Mißachtung der Kirche und ihrer Einrichtungen das Wort geredet. Das liegt auf einem ganz anderen Feld. Es scheint mir aber nicht richtig zu sein, die Sonntagsarbeit für zwei Stunden nur deshalb zu verbieten, weil früher einmal bei uns jeder Gewerbetreibende um diese Zeit in die Kirche zu gehen pflegte, und weil das in den kleinen Dörfern noch jetzt so ist. Die Sonntagsarbeit – auch die in den staatlichen Betrieben – ist nach rein zweckmäßigen Erwägungen zu regeln: dringendes Arbeitsgebot im Interesse der Allgemeinheit, Schonung der Arbeitskräfte im Interesse der Angestellten.
Ich halte das Ganze für keine kirchliche Frage mehr und glaube, wir täten gut, sie ohne unnötigen Spektakel und ohne übergroße Empfindsamkeit zu behandeln. Will einer am Sonntag in die Kirche gehen, so sei ihm das unbenommen – er kann aber nicht verlangen, daß seinetwegen einschneidende Pausen in die Sonntagsarbeit gelegt werden, die dem Angestellten und dem großen Publikum nur Kummer machen. Religionsfördernd wirkt das nicht – es ist noch keiner deswegen in die Kirche gegangen, weil er zwischen zehn und zwölf keinen Kuchen zu kaufen bekam. Wir sind keine Kirchenbilderstürmer, aber wir sind auch keine Frömmler. Die Kirche, die sich am gewandtesten den nun einmal bestehenden Verhältnissen anzupassen versteht, wird sich den Dank des Volkes erringen, die aber, die unnötig die Entwicklung zu hemmen versucht, wird selbst den Schaden davontragen.
An der Regierung aber wird es sein, die Sonntagsarbeit in modernem Sinne festzulegen!
(Ignaz Wrobel, Berliner Tageblatt, 13.04.1919)