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Im Moralgefängnis

Gleichen Respekt zu gewähren, ist die moralische Pflicht eines jeden, der  an die gleiche Würde aller Menschen glaubt

Von Gastautor Lothar Pawliczak

Der Autor ist Kolumnist u.a. bei der Berliner Zeitung, wo er mit dem Text „Wenn dies möglich ist, ist alles möglich“[1] eine Debatte zur Coronapolitik[2] ausgelöst hat, die leider sonst weitgehend ausgeblieben ist – ganz abgesehen von einer unabhängigen Evaluierung der Regierungsmaßnahmen.[3] Die Angst vor Corona, vor Klimaveränderungen, vor Zerstörern der Demokratie, vor moralischer Ausgrenzung lassen uns – so Michael Andrick – in ein Moralgefängnis laufen und er fragt: Wie können wir „aus diese unangenehmen Lage ausbrechen“ (S. 12)? Die moralisierende Debattenführung, die einen wirklichen Diskurs ausschließt, wird vielfach beklagt; deren Symptome auch in zahlreichen anderen Publikationen beschrieben. Antworten auf die Frage, wie das wieder aufzulösen ist, sind aber eher selten. Michael Andricks Buch ist besonders zu empfehlen, weil er die Vorgänge der sozialen Spaltung systematisch analysiert. Er diagnostiziert einen „Kulturvirus Moralin“ (S. 59-76) und die Heilung ist wohl mehr ein sozial-psychologisches Problem, aber um das Problem zu verstehen und ggf. zu lösen bedarf es klarer Begriffe. Und damit wird es zur Sache der Philosophie, nämlich die Begrifflichkeiten zu analysieren – vorausgesetzt, man versteht unter Philosophie die „Arbeit am Begriff“ (Hegel).

Es hätte wohl der brillanten Analyse noch zu mehr Klarheit verholfen, wenn der Autor den Begriff der Gemeinschaft und den Begriff der Gesellschaft exakt definiert und voneinander unterschieden hätte.[4] Er benutzt die Worte „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“ und „Gemeinwesen“ oft als Synonyma, das Wort „Gesellschaft“ aber auch als Oberbegriff und zugleich als Artbegriff in Unterschied zur Gemeinschaft. Die Gemeinschaft (von Familie, in Organisationen, Vereinen oder in einer Partei, im Staate) ist beseitigt, wenn sie gespalten ist, während natürlich jede Gemeinschaft der Staatsbürger immer aus unterscheidbaren Gemeinschaften und Gesellschaften besteht und jede Gesellschaft aus gegenüber dieser selbständigen Personen.

Die Frage, „sind wir nicht bereits in einer gespaltenen Gesellschaft?“ (S. 10), erfordert Aufklärung des „schillernden Begriff[5] »Spaltung«“ (S. 11) Und wird zunächst der „Irrtum über das Wesen gesellschaftliche Spaltung“ (S. 46) aufgeklärt: Das Wort (!) „Spaltung“ hat eine doppelte Bedeutung, bezeichnet „einen Sachverhalt und seine Entstehung, Produkt und Prozess, einen eingetretenen Schaden, aber zugleich auch den Akt (oder die Akte) der Verursachung dieses Schadens. […] Mit »Spaltung« ist ein Zustand und somit ein Ergebnis gemeint […] und zugleich auch die Arbeit oder die Unachtsamkeit, die zu diesem Ergebnis führt.“ (ebd.)[6] Der Autor analysiert, „auf welche Weise und mit welchen Mitteln“ (S. 47) die Gemeinschaft(en) in Deutschland gespalten wurden. Es ist eine diskursfeindlich Einrede und intellektuelle Ausrede, daß die Spaltung daher kommt, weil Menschen unterschiedlicher Meinung sind. „Wäre Meinungsverschiedenheit schon Spaltung, dann wäre jede meinungsplurale Gesellschaft zu jeder Zeit gespalten“ (S. 50). Wir haben es vielmehr mit „spalterischem Handeln“ zu tun, das die Kommunikation schädigt und im „allerletzten Extrem, dem Bürgerkrieg, dazu führen [kann], dass die Kommunikation wirklich zum Erliegen kommt“ (S. 55).

Michael Andrick unterscheidet zwischen Meinungsverschiedenheiten in moralischen Fragen und Moralisierung: „Eine moralische Frage erkennen wir daran, dass wir sie nicht mit dem Verweis auf irgendjemandes Festlegungen beantworten können [..] In der Moral geht es um Prinzipien, nach der wir die Dinge des persönlichen, sozialen und politischen Lebens bewerten und beurteilen.“ (S 59f) Und diese Bewertung, die Urteile, können sehr unterschiedlich ausfallen. Moralisierung dagegen ist eine „sachwidrige Umdeutung einer Frage oder eines Themas in eine Angelegenheit der Moral“ (S 60): Eine Frage, bei der man unterschiedlicher Meinung ist, wird von einer oder von beiden Seiten zu einer Frage der persönlichen moralischen Fehleinstellung umgedeutet und das dem anderen vorgeworfen. Das gibt es im privaten Bereich als einfache Moralisierung, im politischen Bereich muß man das wohl Demagogie nennen (S. 62): Abkanzeln, Vorabmarkieren, Umstrittenmachen, Bekenntniszwang, Kontaktschuldvorwürfe, »Hass und Hetze« bekämpfen, Wahrheitsmonopolansprüche, Wortverbote und Sprachzwänge.

Analysiert werden dann einige „volkspädagogische Vorhaben und Einrichtungen“ (S. 98): „»Unsere Demokratie« schützen“ (S. 101-107), „»Die Fakten« checken?“ (S. 107-111), „»Hass und Hetze« bekämpfen?“ (S. 111-117), „»Gerechte Sprache« sprechen“ (S. 117-123), die für totalitären Geist conta Demokratie stehen (S. 123-129). Ein spezielles Kapitel ist der Frage gewidmet, warum westliche Demokratien für den „Kulturvirus Moralin“ anfällig sind und warum insbesondere die deutsche dafür so enorm anfällig ist (S. 131-154), das mit einem Abschnitt „Befreiung: Den Respekt wiederfinden“ (S. 154-159) endet und das Buch so abschließt.

Die Antwort auf die Frage, wie aus dem Moralgefängnis herauszufinden ist, ist vergleichsweise mager: „Es gibt im Spiel von Moralisierung und Demagogie keine unschuldigen Gewinner; es gibt nur unterschiedlich mitschuldige Verlierer. Spaltung lebt vom Mitmachen. Aber wir können die Mitarbeit aufkündigen und uns stattdessen wie aufgeklärte Bürger einer Demokratie verhalten. »Nur wer das Spiel aufgibt, gewinnt« (Chamfort).“ (S. 154) Dabei kann es nicht um Schuldzuweisungen an die eine oder andere Seite gehen, denn ohne Absicht, laufen „der Logik der Sache nach […] Moralisierung und Demagogie immer darauf hinaus, die Diktatur des eigenen Willens durchsetzen zu wollen. […] Mit dem Regime des Moralismus fallen wir sittlich betrachtet vor die Neuzeit zurück, als Politik noch die Verwirklichung der Glaubenswahrheit auf Erden war – und als ein Kompromiss mit »Ketzern« als Verrat an Gott erscheinen musste, der nur die Verdammnis der eigenen Seele nach sich ziehen konnte. […] Die so Ausgestoßenen werden von Bürgern, die mit den anderen die Politik gestalten, zu Aussätzigen gemacht. […] Im Regime des Moralismus versagen wir einander den Respekt – die gegenseitige Berücksichtigung, die Rücksicht.“ (S. 155f) Respekt ist aber nicht Sympathie, sondern eine Entscheidung, den Anderen völlig unabhängig davon, ob man seine Meinung teilt oder nicht, „als einen rechtsgleichen, von dem Gesetz gleich verpflichteten und in seiner Würde unantastbaren Mitmenschen [zu berücksichtigen]. Respekt ist die Würdigung der Tatsache, dass der andere dasselbe Recht wie ich hat, die Politik mitzugestalten.“ (S. 157) Respekt sei das „Gegengift – von Moralisierung“ […] Gleichen Respekt zu gewähren, ist die moralische Pflicht eines jeden, der mit dem Grundgesetz an die gleiche Würde aller Menschen glaubt und danach handeln will.“ (S. 158)

Michael Andrick: Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden. Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2024, 173 Seiten, ISBN 978-3-86489-438-1, EUR 18,-
[1] In Berliner Zeitung vom 14. November 2022 (https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/war-dies-moeglich-so-ist-alles-moeglich-li.286811)
[2] In der Berliner Zeitung unter der Rubrik „Corona“: https://www.berliner-zeitung.de/topics/corona
[3] Eine laufende Evaluierung der Maßnahmen, und zwar aufgrund offizieller Veröffentlichungen und Daten, hat Michael Hauke unternommen, zusammenfassend publiziert von demselben unter dem Titel Wie schnell wir unsere Freiheit verloren: Eine besorgniserregende Chronologie. Michael Hauke Verlag e.K., Fürstenwalde 2022.
[4] „Gesellschaft“ als „lebendiges Geschehen“ (S. 53) zu definieren, ist unzulänglich. Ich empfehle eine Begriffsbildung im Anschluß an Ferdinand Tönnies Gemeinschaft und Gesellschaft und dazu die Interpretation von Peter Ruben Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet (https://peter-ruben.de/schriften/Gesellschaft/Ruben%20-%20Gemeinschaft%20und%20Gesellschaft.pdf) und Grenzen der Gemeinschaft (https://peter-ruben.de/schriften/Gesellschaft/Ruben%20-%20Grenzen%20der%20Gemeinschaft.pdf), erneut publiziert in ders: Gesammelte Philosophische Schriften. Band 2: Zu philosophischen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft. Verlag am Park, Berlin 2022, S. 257-271 und 535-560. Eine Gemeinschaft hört auf zu existieren, wenn sie gespalten ist, man kann aber nur bedingt aus der Familiengemeinschaft oder aus der Kulturgemeinschaft austreten. Gesellschaften – man denke da als Modell an die GmbH – bestehen aus unterschiedlichen, eigenständigen Personen mit je eigenen Interessen und Meinungen und hören auf zu existieren, wenn alle aus der Gesellschaft ausgetreten sind.
[5] Dazu ist kritisch anzumerken, daß Michael Andrick – wie im Deutschen heutzutage allgemein üblich – nicht zwischen Wort und Begriff unterscheidet. Goethe und Schiller war der Unterschied noch klar. Worte haben oft eine vielfältige Bedeutung, mitunter sogar Bedeutungen, die völlig gegensätzlich sind. Worte bezeichnen Personen, Sachen oder Sachverhalte, während Begriffe definiert sind, um das Bezeichnete „zu begreifen“, was Verstehen meint. Immanuel Kant hat geklärt, daß zur Anschauung und Vorstellung der Verstand hinzukommen muß, um zu begreifen. Vor Jahren hat der Sprachwissenschaftler Heinz Vater versucht, die Gedankenverwirrung infolge der Verwechselung von Wort und Begriff zu entwirren (Begriff statt Wort – ein terminologischer Wirrwarr. In: Andrzej Kątny, C. Schatte (Hg.): Das Deutsche von innen und außen. Ulrich Engel zum 70. Geburtstag. Poznań 1999, S. 147-153; auch in Heinz Vater: Linguistik und deutsche Grammatik im Focus. Gdańsk 2010, S. 125-131; in etwas veränderten Fassung in: Sprachreport 4/2000 (https://pub.ids-mannheim.de//laufend/sprachreport/pdf/sr00-4.pdf) – leider vergeblich.
[6] Eine solche Doppelbedeutung liegt auch beim Wort „Vergleich“ vor, das einmal die Vergleichshandlung und zum anderen das Vergleichsresultat bezeichnet, was dann oft bei Vergleichen zu dem Einwand führt, man dürfe nicht „Äpfel mit Birnen“ vergleichen. Selbstverständlich kann man alles mit allem vergleichen! Ein Vergleich setzt die Unterschiedenheit der Verglichenen voraus und das Vergleichsresultat ist keine Gleichsetzung, sondern die Feststellung, daß die Verglichenen in bestimmter Hinsicht, nach bestimmten Vergleichskriterien gleich, in anderer Hinsicht ähnlich und ansonsten verschieden sind.
(vera-lengsfeld.de)

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