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Irrtum statt Wahrheit

Soziale Täuschung auf allen Ruinen, die die Vergangenheit auftürmte

Von Gustave Le Bon

Seit der Morgenröte der Kultur sind die Völker immer dem Einfluß von Täuschungen ausgesetzt gewesen. In den „Psychologischen Gesetzen der Völkerentwicklung“ habe ich klar auf den Unterschied hingewiesen, der das lateinische Ideal der Demokratie von dem angelsächsischen Ideal der Demokratie unterscheidet.

Schöpfern von Täuschungen haben sie die meisten Tempel, Bildwerke und Altäre errichtet. Früher waren es religiöse, heute sind es philosophische Täuschungen – aber immer findet man diese furchtbaren Herrscherinnen an der Spitze aller Kulturen, die nach einander auf unserm Planeten blühten. In ihrem Namen stiegen die Tempel Chaldäas und Ägyptens, die Kirchenbauten des Mittelalters empor, in ihrem Namen wurde ganz Europa vor einem Jahrhundert umgewälzt.

Es gibt nicht eine einzige unserer künstlerischen, politischen oder sozialen Anschauungen, die nicht ihren mächtigen Stempel trüge. Oft schüttelt sie der Mensch um den Preis furchtbarer Umwälzungen ab, aber er scheint dazu verdammt zu sein, sie immer wieder aufzurichten. Ohne sie hätte er die primitive Barbarei nicht hinter sich lassen können, und ohne sie würde er ihr bald wieder verfallen. Zweifellos sind es leere Schatten, aber diese Töchter unserer Träume haben die Völker gezwungen, all das zu schaffen, was den Glanz der Künste und die Größe der Kultur ausmacht.

„Wenn man alle Kunstwerke und Denkmäler in den Mu-seen und Bibliotheken, die dem Einfluß der Religion ihr Dasein verdanken, zerstören und auf den Steinen ihrer Vorhöfe zertrümmern könnte, was bliebe von den großen Träumen der Menschheit übrig?“, schreibt ein Autor, der die Summe unseres Wissens zieht. "Die Daseinsberechtigung der Götter, Helden und Dichter besteht darin, den Menschen ihren Anteil an Hoffnungen und Täuschungen zu geben, ohne die sie nicht leben können. Eine Zeitlang schien die Wissenschaft diese Aufgabe zu übernehmen. Sie hat sich aber bei den idealhungrigen Gemütern um ihr Ansehen gebracht, weil sie nicht mehr genug zu versprechen wagt, und nicht genug zu lügen weiß.“

Die Philosophen des vergangenen Jahrhunderts widmeten sich mit Eifer der  Zerstörung der religiösen, politischen und sozialen Täuschungen, von denen unsere Väter viele Jahrhunderte lang gelebt hatten. Diese Zerstörung ließ die Quellen der Hoffnung und Ergebung versiegen. Hinter den geopferten Chimären fanden sie die blinden Naturkräfte, die unerbittlich sind gegen Schwäche und kein Mitleid kennen.
Trotz all ihrer Fortschritte hat die Philosophie nicht vermocht, den Massen ein Ideal zu bieten, das sie bezaubern könnte.

Da ihnen aber Täuschungen unentbehrlich sind, so wenden sie sich unwillkürlich, wie die Motte dem Licht, den Rednern zu, die sie ihnen bieten. Die große Triebkraft der Völkerentwicklung war niemals die Wahrheit, sondern der Irrtum. Und wenn heute der Sozialismus seine Macht wachsen sieht, so erklärt es sich daraus, daß er die einzige Täuschung darstellt, die noch lebendig ist. Wissenschaftliche Beweisführungen können seine Entwicklung nicht aufhalten. Seine Hauptstärke liegt darin, daß er von Köpfen verteidigt wird, die die Tatsachen der Wirklichkeit genügend verkennen, um es zu wagen, den Menschen kühn das Glück zu versprechen.

Die soziale Täuschung herrscht heute auf allen Ruinen, die die Vergangenheit auftürmte, und ihr gehört die Zukunft. Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen mißfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.
(Aus Gustave Le Bon, "Psychologie der Massen", 1895)

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