Stimmen etwa die Verfahren nicht?
Von Gastautor Hans Hofmann-Reinecke
Würde man aus einer modernen Klinik die Methoden und Geräte entfernen, welche die Physik beigetragen hat, so bliebe nicht viel übrig. Umso erstaunlicher ist das Desinteresse an diesem Fach in der medizinischen Ausbildung. Noch dazu werden diese Anforderungen weiter reduziert, um der nachlassenden naturwissenschaftlichen Kompetenz aktueller Studienanfänger entgegen zu kommen. Aber sollte sich eine Ausbildung nicht nach den Anforderungen des Berufs richten, statt nach den Neigungen der Studenten? Werden unsere Ärzte vielleicht bald so unqualifiziert sein wie unsere Politiker-innen?
Ein Lob der Arbeitsteilung
Grundlage jeder Zivilisation ist die Arbeitsteilung. Solange jeder sein Korn selbst anbauen, seine Fische fangen und seine Schuhe nähen muss, kommt er nicht weit. Es ist für jede Gesellschaft lebenswichtig, dass sich Handwerker und Fachleute herausbilden. Umgekehrt ist es für den Einzelnen wichtig, sich eine nützliche Expertise anzueignen, für die andere bereit sind, ihn zu bezahlen.
Die Erlangung dieser Expertise kann unterschiedlichen Aufwand erfordern, der aber nicht unbedingt proportional zu ihrem Nutzen ist. Die Ausbildung zum Sanitär-Techniker ist kürzer als die zum plastischen Chirurgen; dennoch ist des Ersteren Leistung für die Gesellschaft wohl wichtiger, beschert sie uns doch ein Dasein ohne Typhus und Cholera, dank sicherer Beseitigung der Abwässer.
Hochkarätige Experten
Die Ausbildung unserer Experten erfolgt an Schulen und Hochschulen, deren Betrieb in Deutschland primär von den Ländern finanziert wird. Der Bürger zahlt also mit seinen Steuern dafür, dass ihm eines Tages qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.
Nach erfolgreicher Ausbildung wird dem Absolventen seine Eignung durch einen Titel oder ein Diplom bestätigt. Diese Urkunde garantiert der Gesellschaft, dass ihr Träger eine klar definierte Qualifikation erworben und durch unbestechliche Prüfungen nachgewiesen hat. Würde solch ein Titel leichtfertig vergeben, so wäre das Betrug gegenüber der Gesellschaft, die dafür bezahlt hat, fähige Fachleute zu bekommen.
Das gefürchtete Physikum
Die Universitäten haben den Auftrag für die Ausbildung unserer Ärzte, die nach einem im Detail definierten Plan verläuft. Zulassung zum Studium erfolgt nach gutem Abitur und/oder bestandenem Eignungstest. Nach vier Semestern gibt es eine Zwischenprüfung, das Physikum. Hier wird etwa Grundwissen über Anatomie und Physiologie abgefragt, aber auch über Naturwissenschaften.
Das Physikum ermöglicht es der Universität, zu einem frühen Zeitpunkt die Eignung der Kandidaten für das weitere Studium sicherzustellen. Die Anforderungen dieser Prüfung scheinen nicht zu hoch zu sein, denn fast alle Kandidaten bestehen sie; im Jahr 2018 beispielsweise waren es in Deutschland mehr als 90% .
Am ehesten bereitet das Fach Physik Schwierigkeiten. Das könnte daran liegen, dass hier Auswendiglernen wenig hilft, man muss logische Zusammenhänge erkennen; es ist sozusagen ein kleiner IQ-Test. Um dieses Hindernis zu beseitigen, intensiviert man nun nicht etwa das Training dieser Materie, sondern man macht die Prüfung leichter.
Gemäß der geplanten Änderung der Prüfungsordnung sollen etwa „die naturwissenschaftlichen Fragen reduziert werden.“ Diese und andere Erleichterungen kleidet man in imposante Formulierungen. Die Rede ist von einem neuen Masterplan, der sich dem medizinischen „Paradigmenwechsel“ anpasst, von „Fokussierung auf ein Kerncurriculum“ und „objektiver strukturierter klinischer Prüfung“.
Die holde Weiblichkeit
In Österreich geht man hier noch einen Schritt weiter. Man hat festgestellt, dass weibliche Kandidaten bei den Zulassungstests mehr Schwierigkeiten haben als männliche. Insbesondere hapert es bei „Quantitativen und formalen Problemen“, „Diagrammen und Tabellen“ sowie „Medizinisch naturwissenschaftlichem Grundverständnis“. Woran könnte das liegen? Doch nicht etwa daran, dass dieser Zahlenkram den Damen weniger liegt!
Die richtige Antwort war schnell gefunden: „Wenn eine Gruppe signifikant weniger gut abschneidet, dann ist offenkundig, dass etwas mit dem Verfahren nicht stimmt“. Und so bereitet man jetzt spezifische Tests für die Weiblichkeit vor, bzw. man berücksichtigt das Geschlecht wohlwollend bei der Auswertung.
Der Patient muss dann also eines Tages Verständnis dafür haben, wenn die Frau Doktor bei der Interpretation eines EKG-Diagramms nicht ganz so fit ist, wie sie sein sollte.
Nicht überall wird Frauen bei Prüfungen der Weg so charmant geebnet wie in Austria, und das ist gut so. Im Jahr 2009 war zum ersten Mal eine Frau für die Leitung eines deutschen Kernkraftwerks nominiert worden. Bei der praktischen Abschlussprüfung hatte sie dann aber Pech. Am Simulator sollte sie einen Atomreaktor in 30 – 60 Minuten herunterfahren und in einen sicheren Zustand bringen. Sie schaffte das aber auch noch nach zwei Stunden nicht. Da wurde dann kein Pardon gegeben.
Routine ist nicht alles
Ich habe den Eindruck, dass die Qualität der Halbgötter in Weiß deutlich mehr variiert, als die der Techniker im Blaumann. Das ist kein Wunder, denn wir Lebewesen sind so unendlich komplex, dass man unmöglich alles medizinische Handeln standardisieren kann. Da wird der Arzt mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert, wo er schnell eingreifen muss, und gleichzeitig muss er eine 5-dimensionale Risikoanalyse im Kopf haben. Das erfordert überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und mentale Disziplin. Sollte so jemand nicht auch in der Lage sein, im Physikum ein paar einfache Fragen in Sachen Physik oder Statistik zu beantworten?
Begabung kann nicht durch Routine ersetzt werden. Sicherlich ist eine Knie-Operation heute Routine, sie ist ein tausendfach erprobter Eingriff, der dem Patienten ein erfreuliches Dasein für die restlichen Jahrzehnte seines Lebens schenkt. Oder auch nicht. Ich kenne Fälle, wo ein Patient nach der OP mehr Probleme hatte als davor. Da sagt der Arzt dann vielleicht „Jeder Patient ist anders“. Das mag schon sein, aber auch jeder Arzt ist anders.
In wenigen Berufen ist die perfekte Ausstattung mit Fachwissen, Intelligenz und Ethik so wichtig wie beim Arzt, und in wenigen Berufen hat ein Mangel daran so schicksalshafte Folgen. Wenn die akademischen Institutionen bei den Anforderungen an die Kandidaten Zugeständnisse machen, so ist das nicht nur verantwortungslos, es ist sträflich. Das Medizinstudium ist schließlich kein Pfad zur Selbstverwirklichung, der jedem offen stehen muss, der dieses Bedürfnis hat. Wohin das führen kann, das sehen wir ja täglich in der Politik.
Was sind Röntgenstrahlen?
Ich hatte in meiner Laufbahn das zweifelhafte Vergnügen, Medizinstudenten die mündliche Prüfung fürs Physikum abzunehmen. Da habe ich brillante junge Akademiker kennengelernt, aber auch Kandidaten, die ungeniert klar machten, dass sie wichtigeres zu tun hätten, als sich um Physik zu kümmern. Die hatten keine Ahnung, was Röntgenstrahlen sind oder wie groß eine Muskelzelle ist (Antwort des Kandidaten: ein Angström) . Sie hatten für die Prüfung nur ein paar Formeln auswendig gelernt ohne sie zu verstehen.
Das bestätigte den alten Medizinerwitz:
Sagt der Professor zum Studenten: Der Text von Seite zwölf bis Seite zwanzig muss auswendig gelernt werden. Fragt der Ingenieur: „warum?“ und der Mediziner „bis wann?“
Dieser Artikel erschien zuerst im Blog des Autors Think-Again. Sein Bestseller „Grün und Dumm“ ist bei Amazon erhältlich.
(vera-lengsfeld.de)