Warum wählen immer noch so viele die vier alten Westparteien?
Von C. JAHN
Seit Jahrzehnten wählen vor allem die Westdeutschen gebetsmühlenartig alle vier Jahre ihre vier geliebten Altparteien, als wäre Deutschland noch immer die Bonner Republik. Die alten Westparteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne sind immer noch da, obwohl es das Deutschland, das sie einst vertreten haben, längst nicht mehr gibt: das Deutschland einer wirklich pluralistischen Demokratie, in dem man zu jeder Tag- und Nachtzeit sicher aus dem Haus gehen konnte und das noch Wohlstand für alle schaffen wollte und dieses Versprechen mehr oder weniger einhielt.
Deutschland ist heute ein völlig anderes Land als zu Bonner Zeiten. Es ist ein Land mit No-Go-Areas geworden, Clan-Kriminalität, gekippten Stadtteilen, einer totalitär wirkenden Einheitspresse und einem Staat, der statt Wohlstand nun Verzicht und Armut für alle predigt, weil er weiß, dass die Weichen unumkehrbar in Richtung Abgrund gestellt sind. Aber trotzdem geben an Wahltagen vor allem die Bürger Westdeutschlands wie eh und je genau den Parteien ihre Stimme, die diese Kehrtwende vom Aufstieg zum Abstieg zu verantworten haben.
Diese Treue insbesondere der Westdeutschen zu ihren geliebten Altparteien erstaunt im Vergleich zu den anderen Ländern Westeuropas, die derzeit ähnliche Abstiegserfahrungen durchleben. Überall in Westeuropa hat sich die Parteienlandschaft in jüngerer Zeit grundlegend gewandelt, viele Parteien des 20. Jahrhunderts sind lange verschwunden, neue Parteien entstanden. Die Welt verändert sich, und unsere Nachbarländer nehmen diese Veränderungen offenbar deutlicher wahr. In Deutschland, vor allem Westdeutschland, hingegen scheint man immer noch damit beschäftigt zu sein, streng nach Vorschrift das Parteiprogramm der Grünen aus dem Jahr 1980 abzuarbeiten: Atomkraft, nein danke! Und: Ja bitte, wir wollen noch viel mehr Ausländer im Land!
Deutschland bildet in politischer Hinsicht in Europa also wieder einmal einen Ausnahmefall. Erklären lässt sich dieser speziell deutsche Seelenzustand, es sich im geistigen Retrodasein bequem zu machen, allerdings recht einfach durch die speziell deutsche Geschichte, die sich aufgrund der Wiedervereinigung von den übrigen Ländern Westeuropas erheblich unterscheidet. Das Aufeinanderprallen von zwei Landesteilen mit völlig unterschiedlichen politischen Erfahrungen hat nach 1989 sowohl im sogenannten „Osten“ als auch im Westen deutliche Spuren hinterlassen, die bis heute die politische Gefühlslage in Deutschland auf ganz eigentümliche Weise prägen.
Zahllose politische Analysten beschäftigten sich seit der Wiedervereinigung mit der Seelenlage der Ostdeutschen, seltsamerweise aber fragte kein einziger nach den Auswirkungen der Wiedervereinigung auf den Seelenzustand der Westdeutschen. Solche Auswirkungen gab es nämlich durchaus: Genau wie sich viele Menschen im Osten angesichts der eher unerfreulichen Begleiterscheinungen der Wiedervereinigung – berufliche Unsicherheit, Kriminalität, Umvolkung – einer romantischen Verklärung der Vergangenheit, einer „Ostalgie“ hingaben, taten dies auch viele Westdeutsche angesichts der aus ihrer Sicht ebenfalls unerfreulichen Begleiterscheinungen, die sie als typisch „ostdeutsch“ wahrnahmen: Staatsskepsis, Aufmüpfigkeit, Patriotismus. Als historische Siegermacht allerdings fühlte man sich in Westdeutschland von Anfang an zu erhaben, um sich mit solchen Eigenheiten zu beschäftigen. Die Menschen in Westdeutschland wollten mit derartig unangenehmen Themen in Ruhe gelassen werden: Ihre geliebte BRD war doch schon das perfekte Gebilde, warum also den Staat hinterfragen? Wer brauchte noch Schwarz-Rot-Gold, wenn Helmut Kohl gerade Europa geeinigt hatte? Und man lebte doch gut mit den Türken zusammen, warum also nicht noch mehr ins Land holen?
Genau wie sich nach 1989 viele „Ossis“ in ihrem Schneckenhaus Ostalgie verkrochen, taten dies auch viele Westdeutsche. Und wie dies noch heute viele Ostdeutsche tun, tun es viele Westdeutsche ebenfalls noch heute. CDU, SPD, FDP und Grüne helfen ihnen dabei: Diese vier alten Westparteien versprechen vor allem den Westdeutschen, dass sie in ihrem Schneckenhaus Westalgie nicht gestört werden. Sie lassen die Westdeutschen in Ruhe und geben ihnen genau das Gefühl, das sich viele Westdeutsche wünschen: Willy Brandt lebt, die BRD ist noch immer der umsorgende Staat, die EU ist gut für uns und mit den Türken klappt das doch alles prima.
CDU, SPD, FDP und Grüne bedienen insofern in erster Linie eine speziell westdeutsche Nostalgie. Solange diese Parteien an der Macht sind, scheint alles in Ordnung zu sein im Land, wie damals, als es noch Helmut Kohl-Witze gab. Und da die Mehrheit der Bevölkerung im wiedervereinigten Deutschland westdeutsch ist und westdeutsch denkt, reicht es für diese vier Westparteien auch aus, wenn sie sich ausschließlich um die Gefühlslage der Westdeutschen kümmern, um Wahlen zu gewinnen.
Die vier alten Westparteien werden daher die Macht in Deutschland noch viele Jahre unter sich aufteilen können, ganz egal, was sie anrichten. Gewählt werden diese Parteien nicht aufgrund ihrer Politik, sondern weil sie als Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche allein durch ihr Dasein insbesondere der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit etwas suggerieren, was keine neue Partei jemals wird versprechen können: den Fortbestand der guten alten Bundesrepublik.
(pi-news.net)