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Tourismus als Motor

Sümeg - Das kleine ungarische Wirtschaftswunder

Von Vera Lengsfeld

Bevor ich aus beruflichen Gründen hierher kam, hatte ich nie von der kleinen Stadt im Komitat Veszprém, etwa 20 Kilometer nördlich des Balaton, gehört. Ich kam nachts an und sah erst am nächsten Morgen durch das Panoramafenster der Hotellobby die Burg auf einem 90 Meter hohen Bergsporn über der Stadt. Ein atemberaubender Anblick, nicht nur in der Morgensonne. Bei Wikipedia steht, es sei die besterhaltene Burg in der Gegend. Das ist falsch. Am Ende des Artikels werden Sie wissen, warum.

Die Anfänge der Burg gehen auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück. Das Geschenk von Ungarns König Stephan V an das Bistum Veszprém ist erstmals 1301 urkundlich erwähnt. In ihrer wechselvollen Geschichte wurde die Burg mehrmals belagert, aber zunächst nie erobert.

Die Mongolenhorden, die an die 90% der Ungarn in den von ihnen eroberten Gebieten abgeschlachtet hatten, zogen hier vorbei. Der Aufstieg hätte sich auf den Rücken ihrer Pferde wohl zu schwierig gestaltet. Erst die zurückflutenden türkischen Truppen eroberten 1664 nach der verlorenen Schlacht bei Szentgotthárd, wo ihr Vormarsch gestoppt werden konnte, die Stadt und Burg Sümeg und setzten beide in Brand. Die Burg wurde wieder aufgebaut und auf den heutigen Umfang erweitert.

Während des Freiheitskampfes der Ungarn 1703 – 1711 gegen den Kaiser konnte die Burg von den Aufständigen unter Ferenc Rákóczi erobert werden, fiel aber 1709 an die Kaiserlichen zurück. Die zündeten die Burg erneut an und sprengten große Teile. Vor der Zerstörung hatte ein kaiserlicher Hauptmann die Burg von allen Seiten gezeichnet. Daher wissen wir heute, wie sie ausgesehen hat. An den Trümmern der seitdem verfallenden Anlage war das nicht mehr zu erkennen.

Der Bergsporn blieb über die Jahrhunderte wegen seiner 360°- Aussicht ein beliebtes Wanderziel. Wikipedia widmet der wundersamen Wiederauferstehung der Burg keine Zeile. Es steht dort lediglich, dass der „derzeitige“ Kapitän“ der Burg 1989 das Betriebsrecht erhielt und es zum „Ausflugsziel“ für Touristen machte. Imre Papp, so heißt der Burgkapitän, hatte 1988 die Trümmer von der Gemeinde Sümeg gekauft, weil die nichts damit anfangen konnte. Papp war kein reicher Mann. Er betrieb auf dem Berg ein kleines Café. Er begann mit seiner Familie, die Trümmer freizulegen und dann die Burg wieder aufzubauen.

Nach und nach halfen Freunde, Bekannte und interessierte Freiwillige. Es waren nach dem Sturz des kommunistischen Regimes die wilden 90er-Jahre, in denen es noch nicht die bürokratischen Strukturen gab, die sich auch im heutigen Ungarn herausgebildet haben und die ein solches Unternehmen heute kaum mehr möglich machen würden. Als die Burg im alten Umfang wieder stand, war Papp klar, dass er einen Touristenmagneten brauchte. Er gründete die Reitschule, in der es regelmäßige Vorführungen ungarischer und mongolischer Reitkünste gibt. Nach der Vorstellung werden die hunderten Zuschauer in rekonstruierten Gewölben mittelalterlich verköstigt. Die Darsteller, die nach der Vorstellung auch die Kellner sind, tragen wunderschöne historische Kostüme. Man trinkt Wein, Bier oder Wasser, isst Gänsekeule, Blutwurst und Weißkraut mit den bloßen Händen und sieht darüber weg, dass es im Mittelalter noch keine Kartoffeln gab.

Als Papp genug Kapital erwirtschaftet hatte, ging er das nächste Projekt an: ein Wellness-Hotel mit 150 Zimmern, das auch für Tagungen genutzt werden kann. Nach vorn ist es dem Straßenbild einer ungarischen Kleinstadt angepasst, nach hinten zum Burgberg hin sieht es aus, wie eine Vorburg, gebaut um die Wasserbecken der Wellness-Anlage. Wenn man das heute vor Augen hat, kann man kaum glauben, dass Hotel, Reitanlage, Burg Dank der Initiative und Tatkraft eines Mannes entstanden sind. Inzwischen ist die Burg nicht nur äußerlich wiedererstanden, auch im Inneren gibt es viel zu sehen: Luxuriöse Wohnräume, Burgküche, Wächterzimmer, Kapelle, Werkstätten, Geflügelställe, Gemüsegärten, Gefängnis, Folterkammer und Museen. Im Sommer gibt es nicht nur Vorführungen in der Reiterschule, sondern auch Mittelalter-Spiele auf den Burghöfen.

Papp ist inzwischen der größte Arbeitgeber der Stadt. Sümeg verdankt ihm, dass seine sonstigen historischen Stätten, Kloster, Grabstätten der Bronzezeit und ein römisches Militärlager mehr Beachtung finden. Der Tourismus ist der Motor des kleinen ungarischen Wirtschaftswunders, von dem so viele profitieren.
https://sumegvar.hu/en
(vera-lengsfeld.de)

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