Zu einer Wiedergeburt der Bürgerlichkeit?
Von Vera Lengsfeld
Von Karl Marx stammt der Satz:„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an sie zu verändern“. Das ist seine 11. Feuerbachthese. Marx betrachtete die bisherige Philosophie als weltfremd, weil sie sich angeblich darauf beschränkt, die Welt zu erklären, anstatt sie aktiv zu verändern. Damit lag er zwar komplett falsch, denn Philosophen haben immer auch Veränderungen bewirkt. Aber Marx ging es um revolutionäre und kompromißlose Veränderungen. Die haben der Marxismus und die aus ihm entwachsenen Systeme im schrecklichen 20.Jahrhundert dann radikal vollzogen.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems schien es durch die Friedliche Revolution einen Sieg der Vernunft zu geben. Ein voreiliger Philosoph rief gar das Ende der Geschichte aus. Aber die Veränderer gaben ihre Ziele nicht auf. Sie sollen nur nicht mehr durch radikale Gewalt, sondern durch permanenten Kulturkampf erreicht werden. Seit Anbruch des 21. Jahrhunderts hat dieser Kulturkampf immer mehr Fahrt aufgenommen. Es ist inzwischen ein Kampf gegen die Normalität.
Es gibt inzwischen zahllose Bücher, die sich mit allen Aspekten des Kulturmarxismus, genannt Wokeness, beschäftigen. Keines ist so tiefgründig und klar wie das von Norbert Bolz „Zurück zur Normalität“ Untertitel: Mit Augenmaß und gesundem Menschenverstand.
Das ist, um Bertold Brecht zu zitieren, das „Einfache, das schwer zu machen ist“.
Wir leben inzwischen in einer Welt, in der wir einen biologischen Mann, der behauptet, eine Frau zu sein, bei Strafe nicht Mann nennen dürfen, gleichzeitig das Europäische Parlament aber beschließt, dass vegane Wurst nicht mehr Wurst genannt werden darf, um Verbraucher vor Täuschungen zu schützen.
Die These von Bolz: „Unsere bürgerliche Gesellschaft ist einem Zangengriff auf die Normalität ausgesetzt – einmal durch die 'Wokeness' der Kulturrevolutionäre und zum anderen durch den Alarmismus der politisch-medialen Elite. Die Wokeness stellt das Verhältnis von normal und pathologisch auf den kopf. Der Alarmismus stellt das Verhältnis von normal und extrem auf den Kopf.“ Wir leben inzwischen in einem Klima aggressiver Intoleranz, die sich als absolute Toleranz tarnt, in deren Namen alle traditionellen Lebensformen bekämpft werden.
Der permanente Alarmismus, mit dem die Gesellschaft zusätzlich verunsichert wird, ist der „gemeinsame Nenner von Sensationsjournalismus, Gefälligkeitswissenschaft und eine Politik der Angst“. Der Kampf gegen alles Normale ist deshalb so gefährlich, weil Normalität „die größte zivilisatorische Errungenschaft“ ist. „Sie ist dem Schrecken der urzeitlichen menschlichen Existenz abgetrotzt und hat die Selbsterhaltung des Menschen auf Dauer gestellt“.
Wie zerbrechlich das ist, haben die Europäer nicht nur in zwei Weltkriegen erfahren, dann in den 90er Jahren im ehemaligen Jugoslawien. Trotz dieser Erfahrungen wurde 2015 ein Strategiepapier von Kanzlerin Merkels Integrationsministerin Aydan Özoğuz beschlossen, das bis heute gilt, in dem festgelegt wurde:
„Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden“. Das ist ein Frontalangriff auf den Rechtsstaat, der uns zurückwerfen würde in den „Naturzustand“ des Thomas Hobbes, in dem „der Mensch des Menschen Wolf“ ist. Das Papier ist vom Kabinett Merkel 3 abgesegnet worden und ist bis heute fast unbemerkt geblieben, weil kurz nach seiner Präsentation Deutschland im Asylchaos versank, aus dem es bis heute nicht wirklich aufgetaucht ist.
Wie ist es mit der von den Woken immer wieder propagierten Identitätssuche? „Ein normaler Mensch weiß, wer er ist, und muss sich nicht auf die Suche nach seiner Identität begeben. Kann man überhaupt von Identitäten sprechen, wenn man sie per Gleichbehandlungsgesetz jedes Jahr wechseln kann? Ist man „rechts“, wenn man skeptisch gegenüber den Verkleidungen ist, die unsere neue Realität bestimmen sollen? „Der von den Woken betriebene „Kampf gegen rechts“ ist in Wahrheit ein Kampf gegen den Glauben an die Normalität, den man Konservatismus nennt.“
Der Verlust der Normalität, hat ein Datum: Der Beginn des Ersten Weltkriegs, der im englischsprachigen Raum längst als die Urkatastrophe erkannt ist. Im ersten Weltkrieg, so Bolz, zerbrach der „Stolz auf die europäische Kultur“, mit ihm das „ungebrochene, selbstbewusste Bürgertum“. Seitdem beherrschen Generationen von Weltverbesserern die Politik des Westens.
Vor allem wurde die Unterscheidung von Gut und Böse durch Fortschrittlich und Reaktionär ersetzt. „Seit aber Zweifel am Fortschritt aufgekommen sind, weiß der Westen nicht mehr, was er will und er glaubt nicht mehr daran, zwischen Richtig und Falsch unterscheiden zu können…
Was sich unter Parolen wie „Diversity“ und „Identitätspolitik“ tatsächlich ereignet, ist eine Wiederkehr des Tribalismus. Nicht mehr das Individuum und die Familie stehen im Zentrum der Gesellschaft, sondern die Gruppe und der Stamm.“ Darauf hat seinerzeit Rolf Peter Sieferle hingewiesen, davon zeugt das oben erwähnte Merkelsche Strategiepapier. Begünstigt wird die Entwicklung durch das Fehlen jeglichen Selbstbehauptungswillens. „Denn Selbstbehauptung heiße: Fortschritt, Wachstum, Technisierung , Industrialisierung, Maschinenbau. statt dessen stehen die Zeichen auf „Degrowth“ und „Deindustrialisierung“.
Das Modell soll möglichst in alle Welt exportiert werden. Deutschlands Entwicklungshilfe besteht hauptsächlich darin, den Chinesen das Gendern und den Afrikanern die Identitätspolitik beizubringen oder den Südamerikanern Fahrradwege, die niemand braucht. Längst ist laut Bolz links-grüner Fundamentalismus zur "Ersatzreligion“ geworden. Es gibt wieder Sünden, Bußen Beichtrituale und sogar eine Inquisition, die harte Strafen verhängt und Ungläubige und Herätiker zu Vogelfreien erklärt.
Am Ende hat Bolz aber eine hoffnungsvolle Aussicht: Während jeder normale Mensch mit gesundem Menschenverstand die Analysen, die im Buch geboten werden, bestätigen kann, hat die Irrationalität ein Ausmaß erreicht, das sich als fatal für die Woken erweisen wird. Deshalb gibt es keinen Grund, in Pessimismus zu verfallen. Weltuntergangsszenarien hat es zu allen Zeiten gegeben. Am Ende hat sich immer wieder die Normalität durchgesetzt. Warum sollte es diesmal anders sein?
Schon Friedrich Hölderlin war sich sicher: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.
Bolz: „Im Augenblick sehen wir nur die Zeichen der Dekadenz, aber am Ende wird die Wokeness die Provokation gewesen sein, die zu einer Wiedergeburt der Bürgerlichkeit geführt hat. Dazu brauchen wir eigentlich nur den Mut zur Normalität.“
>>>Norbert Bolz: „Zurück zur Normalität“, LMV 2025
(vera-lengsfeld.de)