Auf den Kanzler kommt es an
Von David Cohnen
Durch die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner (FDP) und weiterer FDP-Minister hat die Ampelkoalition ihre Mehrheit verloren. Nach langem Hin und Her hat der Bundeskanzler signalisiert, am 16. Dezember die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen, ist dazu jedoch nicht verpflichtet. Selbst im Falle einer Niederlage bei der Vertrauensfrage müsste er nicht zurücktreten und könnte bis zum regulären Wahltermin im September 2025 im Amt bleiben. Es liegt allein im Ermessen des Kanzlers, ob er die Vertrauensfrage stellt, seinen Rücktritt dem Bundespräsidenten anbietet und ob der informell festgelegte Wahltermin am 23. Februar 2025 tatsächlich eingehalten wird.
Um diese Unsicherheit zu überwinden, besteht die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensantrags. Doch die CDU/CSU, als größte Oppositionspartei mit den nötigen 25 % der Stimmen, zögert offenbar aus parteitaktischen Gründen, diesen Schritt zu gehen. Möglicherweise möchte sie ihre Position für einen potenziellen Kanzlerkandidaten wie etwa Friedrich Merz absichern, anstatt sofort die Verantwortung zu übernehmen.
In diesem Kontext möchte ich eine mögliche Vorgehensweise aufzeigen, wie dennoch ein konstruktives Misstrauensvotum eingeleitet werden könnte.
Der konstruktive Misstrauensantrag und Friedrich Merz als potenzieller Kanzler
Viele politische Beobachter sind der Ansicht, dass es höchste Zeit ist, Bundeskanzler Olaf Scholz abzulösen. Sie warnen davor, dass Deutschland unter der verbleibenden Ampel-Regierung (SPD, Grüne) in eine gefährliche Richtung steuert. Für diese Kritiker erscheint ein Regierungswechsel unvermeidlich. Sie sind bereit, pragmatische Allianzen zu akzeptieren, um dieses Ziel zu erreichen - selbst wenn dies bedeutet, dass sich ideologisch weit auseinanderliegende Parteien zusammentun müssten.
In diesem Kontext könnte ein konstruktives Misstrauensvotum eine realistische Option darstellen. Auch wenn Friedrich Merz, der designierte Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, zögert, diesen Schritt aktiv einzuleiten, könnte er am Ende doch als Kanzlerkandidat aufgestellt werden. Er würde damit vielleicht widerwillig, aber dennoch gezwungenermaßen in die Position des Bundeskanzlers gedrängt.
1. Sitze der Oppositionsparteien im Bundestag
Die derzeitigen Sitzverteilungen im Bundestag sehen wie folgt aus:
. AfD: 76 Sitze
. FDP: 90 Sitze
. BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht): 10 Sitze
. Linkspartei: 28 Sitze
. Fraktionslose Abgeordnete: 9 Sitze
Zusammen ergeben diese Parteien und fraktionslosen Abgeordneten insgesamt 213 Sitze im Bundestag, was etwa 29 % der Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten (733 Sitze) entspricht. Dies übertrifft die notwendige Schwelle von einem Viertel der Abgeordnetenstimmen, die laut Artikel 67 des Grundgesetzes erforderlich ist, um einen konstruktiven Misstrauensantrag einzubringen.
2. Der Anteil der CDU/CSU und die mögliche Mehrheit für Friedrich Merz
Um zum Kanzler gewählt zu werden, müsste Friedrich Merz nicht die volle Unterstützung aller Oppositionsparteien erhalten. Ein Teil der Oppositionsstimmen sowie zusätzliche Stimmen aus der eigenen Fraktion (CDU/CSU) könnten bereits ausreichen. Zudem wäre es denkbar, dass sich abweichende Stimmen aus den Reihen der SPD oder der Grünen hinzugesellen. Sollte sich die politische Stimmung weiter ändern, könnten auch diese Unzufriedenen aus der Ampelkoalition einem solchen Votum zustimmen, um einen Regierungswechsel herbeizuführen.
3. Der Ablauf eines konstruktiven Misstrauensantrags
Der Prozess des konstruktiven Misstrauensantrags ist im Grundgesetz klar geregelt:
1. Antragstellung: Die Fraktionen AfD, FDP, BSW, Linkspartei und die fraktionslosen Abgeordneten stellen gemeinsam den Antrag, den amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz abzuwählen und Friedrich Merz als Nachfolger zu wählen. Merz muss dabei nicht im Vorfeld ausdrücklich zustimmen, um als Kandidat nominiert zu werden. Er könnte innerhalb von 52 Stunden zum Kanzler gewählt werden.
2. Abstimmung im Bundestag: Der Bundestag stimmt über den Antrag ab. Entscheidend ist, dass sowohl die Absetzung des bisherigen Kanzlers als auch die Wahl des neuen Kanzlers in einem einzigen Schritt erfolgen. Eine absolute Mehrheit von mindestens 367 Stimmen ist erforderlich.
3. Ernennung durch den Bundespräsidenten: Wenn Merz die notwendige Mehrheit erhält, muss der Bundespräsident ihn offiziell zum Bundeskanzler ernennen. Erst nach dieser Ernennung endet das Amt von Olaf Scholz formal, und Merz tritt als neuer Bundeskanzler sein Amt an.
4. Merz als Kanzlerkandidat: Ein politischer Schachzug
Obwohl Merz sich bisher zögerlich gezeigt hat, einen solchen Antrag selbst zu stellen, könnte er letztendlich in diese Rolle gedrängt werden. Die Kombination aus Druck aus den eigenen Reihen der CDU und einer potenziellen Allianz mit FDP, AfD und BSW etc, könnte ihn zum Kandidaten machen, selbst wenn er zunächst Widerstand zeigt. In einem solchen Szenario hätte Merz die Möglichkeit, die politischen Weichen neu zu stellen und sich als Kanzler der Mitte zu präsentieren - als Alternative zur aktuellen Regierung, die zunehmend an Rückhalt verliert.
5. Fazit
Die Option eines konstruktiven Misstrauensantrags könnte eine bedeutende politische Wende in Deutschland einleiten. Die Oppositionsfraktionen verfügen über genügend Stimmen, um den Antrag zu stellen. Mit der Unterstützung der CDU könnte Friedrich Merz zum neuen Kanzler gewählt werden, selbst wenn er sich zunächst weigert, aktiv für dieses Amt zu kandidieren. Das Szenario verdeutlicht die Macht der parlamentarischen Instrumente und zeigt, dass in der Politik manchmal auch unwillige Akteure durch die Dynamik der Ereignisse in Schlüsselpositionen gelangen können.
In dieser Situation wird sich zeigen, ob Merz tatsächlich bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und im entscheidenden Moment zu handeln, oder ob er weiterhin zögert und damit eine historische Chance verpasst, die politische Zukunft Deutschlands aktiv mitzugestalten. Es wird sich herausstellen, ob er das Wohl des deutschen Volkes an erste Stelle setzt oder ob er in erster Linie darauf bedacht ist, seine eigene Position und die seiner Partei zu stärken.
Könnte das zögerliche Verhalten der CDU/CSU und ihres ,Kanzlerkandidaten' Friedrich Merz darauf hindeuten, dass bei Neuwahlen Koalitionen in Betracht gezogen werden, die möglicherweise erneut diejenigen an der Regierungsbildung beteiligen, die das Land in die falsche Richtung geführt haben? Sollte die CDU/CSU sich für ein konstruktives Misstrauensvotum entscheiden, müssten sie und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz bereits jetzt deutlich machen, dass sie eine solche Zusammenarbeit ablehnen. Doch das zögerliche Vorgehen erweckt den Eindruck, dass die CDU/CSU lieber bestimmte politische Konkurrenten bekämpfen möchte, anstatt im Interesse des deutschen Volkes zu handeln. Es ist schwer vorstellbar, dass Wähler eine Partei unterstützen würden, die Teil einer Koalition ist, in der auch Parteien vertreten sind, die sie in der aktuellen Ampelkoalition zu 80 % ablehnen. In diesem Fall ist zu erwarten, dass die Wähler bei der nächsten Wahl nach Alternativen suchen, die eine Zusammenarbeit mit den Ampelparteien ausschließen.