Die Ukraine und der schleichende Verlust deutscher Verteidigungssouveränität
"Die Finanzierung der Rüstungsproduktion eines anderen Staates ist etwas Unerhörtes", sagt der AfD-Bundestagsabgeordnete und Ex-Kampfflieger der Bundeswehr, Gerold Otten im PI-NEWS-Interview.
Laut Medienberichten finanziert die deutsche Bundesregierung die Entwicklung ukrainischer Langstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 2500 km – gefertigt auf ukrainischem Boden, ohne deutsche Technologie, aber mit deutschen Geldern. PI-NEWS-Autorin Elena Fritz hat sich darüber mit dem AfD-Bundestagsabgeordneten und Ex-Kampfflieger der Bundeswehr, Gerold Otten, unterhalten.
PI-NEWS: Herr Otten, würden Sie zustimmen, dass die Bundesregierung mit der Finanzierung ukrainischer Langstreckenraketen bewusst eine Grauzone betritt, um die klassische Kontrolle über militärische Rüstungsprojekte zu umgehen? Und wie bewerten Sie dies völkerrechtlich, gerade im Hinblick auf die Bindungswirkung des Zwei-plus-Vier-Vertrags und der UN-Charta?
GERALD OTTEN: Die Finanzierung der Rüstungsproduktion eines anderen Staates ist insofern etwas Unerhörtes, weil es sowas bisher nicht gegeben hat. Die klassische parlamentarische Kontrolle (sog. BMF-Vorlagen) bezieht sich nur auf Beschaffungen für die Bundeswehr. Insofern handelt es sich tatsächlich um eine Grauzone, wenngleich der Deutsche Bundestag theoretisch durch das Budgetrecht die Möglichkeit besitzt, diese Zahlung zu unterbinden. Es stellt sich mir die Frage, ob nicht durch die Hintertür Hochwerttechnologie an die Ukraine verkauft wird oder ob es sich dabei um ein Vehikel handelt, um öffentliche Debatten über die Lieferung von Raketen zu umgehen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, besitzt der von Kanzler Merz angekündigte Schritt zunächst innenpolitische Brisanz.
Was die außenpolitischen Implikationen betrifft, so dürfte die Finanzierung nicht gegen den Zwei-Plus-Vier-Vertrag verstoßen. Zwar wird darin dem vereinten Deutschland das Führen von Angriffskriegen verboten, doch das ist unmittelbar der UN-Charta entlehnt und nicht speziell auf Deutschland anwendbar. Deutschland führt auch keinen Angriffskrieg. Vielmehr dürfte sich auch in diesem Fall die Ansicht durchsetzen, dass dieser Schritt ebenso wie Waffenlieferungen an einen angegriffenen Staat im Einklang mit dem Recht auf Selbstverteidigung gemäß UN-Charta (Art. 51) steht. Sollte Russland diesen Schritt heranziehen, um den Zwei-Plus-Vier-Vertrag zu kündigen, hätte das keine rechtlichen Konsequenzen, denn der Vertrag enthält keine Kündigungsklausel und Russland würde nicht im Einvernehmen mit den drei übrigen Vertragspartnern handeln. Völkerrechtlich liegt die Verantwortung für den Einsatz weitreichender Waffensysteme bei der Ukraine, solange es der Selbstverteidigung eines angegriffenen Staates dient. Dieses Recht auf Selbstverteidigung schließt objektiv auch die Zerstörung militärischer Infrastruktur auf dem Hoheitsgebiet des Angreifers mit ein.
Kann die aktive Mitfinanzierung ukrainischer Offensivwaffen durch Deutschland nicht als „wiederauflebende Gefahr“ interpretiert werden, insbesondere durch Russland – und damit theoretisch zu einer sicherheitspolitischen Eskalation unter Berufung auf die Feindstaatenklausel führen?
Allgemein gilt, dass die Feindstaatenklausel völkerrechtlich und politisch obsolet ist. Als UN-Mitglied genießt Deutschland ebenso wie jedes andere UN-Mitglied völkerrechtlichen Schutz vor militärischen Angriffen (gemäß dem Verbot der Gewaltanwendung, Art. 2, Abs. 4). Richtig ist, dass die Feindstaatenklausel (Art. 53 u. 107) nach wie vor Teil der UN-Charta ist. Dass das immer noch so ist, ist der Komplexität einer Änderung geschuldet (Zustimmung aller Vollmitglieder sowie 2/3 der aller Mitglieder). Zudem ist eine Streichung zwar Ziel deutscher Politik, aber nicht prioritär, weil die Feindstaatenklausel keine politische oder völkerrechtliche Bedeutung mehr besitzt. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf eine Resolution der 50. UN-Generalversammlung vom 11. Dezember 1995, „dass die ,Feindstaaten‘-Klauseln in den Artikeln 53, 77 und 107 der Charta in Anbetracht der weitreichenden Veränderungen, die in der Welt eingetreten sind, hinfällig geworden sind“.
Die Feindstaatenklausel bietet keine Grundlage dafür, militärische Maßnahmen gegen ein UN-Mitglied zu richten, der seinerseits und wie viele andere UN-Mitglieder im Rahmen der UN-Charta handelt. Es wäre eine einseitige Interpretation, und eine militärische Aktion gegen Deutschland würde von der NATO als aggressiver Akt gegen einen Bundesgenossen gedeutet werden, der zu Anwendung des Artikel 5 des Washingtoner Vertrages (NATO) führt.
Die NATO hat sich in ihrer bisherigen Linie stets um Eskalationsvermeidung bemüht – insbesondere bei Waffensystemen, die das russische Kernland bedrohen könnten. Ist Deutschland mit der Förderung ukrainischer Angriffswaffen, deren Reichweite deutlich über die Grenzen der Ukraine hinausgeht, nicht dabei, sich aus dem sicherheits-politischen Konsens des Bündnisses zu verabschieden – und riskiert damit nicht auch ein strategisches Zerwürfnis mit den USA?
Fakt ist, dass nicht nur Deutschland weitreichende Waffensysteme an die Ukraine geliefert hat, sondern auch andere NATO-Staaten. Großbritannien und Frankreich haben Storm Shadow/Scalp an die Ukraine geliefert und die USA ATACMS-Raketen, die bereits gegen russisches Territorium eingesetzt worden sind. In diesem Zusammenhang kann von einer Verabschiedung aus dem sicherheitspolitischen Konsens des NATO-Bündnisses nicht gesprochen werden, sondern vielmehr hat Merz das nachgeholt und offiziell bestätigt, was bereits Praxis bei den NATO-Partnern ist, die die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland unterstützen.
Durch die Finanzierung eines eigenständigen ukrainischen Raketenprogramms gibt Berlin nicht nur Geld, sondern de facto auch Kontrolle aus der Hand. Teilen Sie die Einschätzung, dass wir damit künftig nicht einmal mehr wissen, gegen wen mit deutschen Mitteln entwickelte Waffen eingesetzt werden? Und ist dies nicht der sicherheitspolitisch gefährlichste Kontrollverlust seit Gründung der Bundeswehr?
Völkerrechtlich ist die Lage so, dass die Ukraine die finanzierten oder übergebenen Waffen als souveräner Staat so einsetzen kann, wie es die UN-Charta (Art. 51) vorsieht. Eine direkte Kontrolle über die Nutzung der Waffen ist nicht möglich, zumal wenn das Geld zum Ausbau der Produktionskapazitäten bzw. Weiterentwicklung ukrainischer Raketen genutzt wird. Die bisherige Auflage bei Rüstungsexporten, die sog. Endverbleibklausel, die die Käufer verpflichtet, Kontrollen über den Verbleib deutscher Rüstungsgüter zu dulden, greift im genannten Fall nicht.
Offiziell heißt es, Deutschland helfe der Ukraine „bei der Verteidigung“. In der Realität werden nun aber Offensivwaffen finanziert, die auch präventive oder eskalierende Schläge ermöglichen. Haben wir Ihrer Einschätzung nach damit die Schwelle zur verdeckten Kriegsbeteiligung längst überschritten – und wenn ja: Welche völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Folgen könnten daraus entstehen?
Die Unterscheidung in Defensiv- und Offensivwaffen ist eine Chimäre. Alle Waffensysteme können in beiden Szenarien zum Einsatz kommen, weshalb der Akt der Verwendung darüber entscheidet, ob sie offensiv oder defensiv eingesetzt werden. Was die Kriegsbeteiligung betrifft, gibt es in den einschlägigen völkerrechtlichen Dokumenten einen klaren Rahmen: Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta verbietet militärische Gewaltanwendung grundsätzlich, außer im Rahmen der Selbstverteidigung (Art. 51 der UN-Charta), in welchem Fall auch neutrale Staaten einen angegriffenen Staat mit finanziellen Mitteln und Rüstungsgütern unterstützen dürfen. Die Haager Verträge von 1907 (hier explizit das „Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten neutraler Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges“) kann auf den Ukraine-Krieg nicht in Anwendung kommen, weil die UN-Generalversammlung Russland als Aggressor verurteilt hat. Aus diesem Grunde haben sich zahlreiche Mitgliedsstaaten der NATO und der EU, einschließlich Deutschland, nicht neutral erklärt, sondern zu Unterstützern der Ukraine im Rahmen von Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Demnach ist es völkerrechtlich legal und legitim, einen angegriffenen Staat durch Geld und Waffenlieferungen zu unterstützen. Ob es politisch tunlich ist, steht auf einem anderen Blatt.
Seit 1945 war es deutsche Staatsräson, keine eigenständige militärische Eskalation auszulösen, keine Angriffssysteme zu fördern und keine Rüstungsprojekte ohne parlamentarische Kontrolle zu betreiben. Würden Sie sagen, dass diese Regierung mit dem Segen des Bundeskanzlers gerade dabei ist, diese Grundprinzipien abzuschaffen – und dass die AfD hier nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, laut und öffentlich zu widersprechen?
Unser Widerspruch muss ein politischer sein und mit dem Ziel, einen Verhandlungsfrieden auf Grundlage einer Anerkennung der legitimen Interessen der Parteien zu erreichen. Positiv ist, dass nunmehr konkret über entsprechende Bedingungen für einen Waffenstillstand gesprochen wird, wobei allerdings die Ansichten beider Kriegsparteien weit auseinandergehen. Deutschlands Politik unter Merz fügt sich in eine Politik von NATO und EU und kann daher nicht als Besonderheit gesehen werden. Zugleich vergibt sich Deutschland durch seine außenpolitische Verzwergung die Möglichkeit, als ehrlicher Makler zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln sowie etwaige Vorstöße der US-Regierung glaubhaft zu unterstützen.
(pi-news.net)