Was die Mehrheiten im Bundestag gebieten
Von Knut Wiebe
Zuletzt sollte im Juli d.J. im Bundestag die gesetzlich vorgeschriebene Nachwahl von
drei Richtern zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erfolgen. Um gewählt zu werden, muss jeder Kandidat eine 2/3-Mehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Mehrheit der Stimmen aller Abgeordneten (316, absolute oder sogenannte: Kanzler-Mehrheit) auf sich vereinigen, § 6 BVerfGG (Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Da eine solche Mehrheit nicht für alle Kandidaten gesichert war, wurde der Wahltermin im Ganzen vertagt. Allerdings verfügt die Regierungskoalition auch weiterhin nicht über eine 2/3-Mehrheit (CDU/CSU 208, SPD 120 Abgeordnete), da diese erst mit 420 (von 630) Abgeordneten erreicht ist. Nicht einmal die absolute Mehrheit, über die die Koalition verfügt, war bei der Wahl der aufgebotenen Kandidatinnen gesichert.
Die Kandidatin Brosius-Gersdorf hat inzwischen reagiert und den Verzicht auf ihre Kandidatur erklärt. Konsequenterweise wird zumindest derselbe Teil der CDU/CSU-Fraktion sich auch der Wahl der ebenfalls von der SPD aufgestellten Kandidatin Kaufhold verschließen, da sie, wie Brosius-Gersdorf, verfassungswidrige Positionen zu Art 1 und 2 GG (Menschenwürde und Lebensschutz) vertritt. Auch Kaufhold will nicht Recht sprechen, sondern das Recht verändern. Dies aber ist nicht die Aufgabe des BVerfG, sondern des Parlaments. Überdies hat sich auch Kaufhold schon dahin geäußert, einem AfD-Verbotsantrag entsprechen zu wollen, bevor er überhaupt gestellt ist. Würde sie gewählt und müsste dann – und sei es nur vertretungsweise – über einen solchen Antrag mitentscheiden, würde dies einen Befangenheitsantrag nach sich ziehen, den man kaum als unbegründet ansehen könnte. Auch schon deshalb ist Kaufhold für das Amt einer Richterin des BVerfG nicht geeignet und sollte als Kandidatin ebenfalls verzichten oder zurückgezogen werden.
Wie schon erwähnt, wird aller Voraussicht nach wieder ein nennenswerter Teil der CDU/CSU sich auch der Kandidatin Kaufhold schon aus Gründen ihrer Haltung zur Abtreibung versagen. Für eine erfolgreiche Nachwahl von Verfassungsrichtern müssen daher Absprachen unter den im Bundestag vertretenen Parteien (CDU/CSU und SPD, Abgeordnete wie vor, AfD 152, Grüne 85, Linke 64) getroffen werden. In Betracht kämen als 2/3-Koalitionen die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke (477 Abgeordnete) wie auch die Fraktionen der CDU/CSU, AfD und Linke (424 Abgeordnete). Sollte die Brandmauer zu der Linken nicht mehr bestehen, was wegen ihrer Zustimmung zum zweiten Wahlgang der Bundeskanzlerwahl am 06.05.2025 noch am selben Tag angenommen werden kann, müsste die Brandmauer entweder nur zur AfD, ansonsten auch zur Linken aufgegeben werden. Eine 2/3 Koalition aus AfD, SPD, Grünen und Linken mit zusammen 421 Mandaten wäre theoretisch auch möglich, dürfte aber als unrealistisch ausscheiden. (Der einzige Abgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbands -SSW- spielt in keiner Berechnung eine Rolle).
Auffällig war jedenfalls, wie nachhaltig die Linken mit ihren 64 Stimmen die Aufstellung und Wahl eines eigenen Kandidaten gefordert haben. Offenbar wissen sie, dass sie – so oder so – für eine 2/3-Mehrheit gebraucht werden. Dies dürfte der CDU/CSU zwar nicht gefallen. Will sie aber als größte Fraktion im Bundestag und als der politisch deutlich stärkere Koalitionspartner ihre politische Bedeutung zurückgewinnen und sich nicht länger von einem de-Facto-Bündnis mit SPD, Grünen und Linken lähmen oder bevormunden lassen, bleibt ihr nur das Aufgeben beider Brandmauern oder der in jedem Fall der noch bestehenden Brandmauer zur AfD, und zwar zügig. Nur dies würde der CDU/CSU die politische Handlungsfähigkeit zurückgeben können, um auch den gesetzgeberischen Auftrag zu erfüllen, nämlich die anstehenden Ergänzungswahlen zum BVerfG mit den gebotenen Mehrheiten durchzuführen.
Der Preis hierfür wäre allerdings, entweder der SPD zwei Richterkandidaten (davon gegebenenfalls einen Sitz über die Grünen oder Linken) oder aber je einen Richtersitz den Linken wie auch der AfD im BVerfG zuzugestehen; gegebenenfalls bestünde aber auch die Chance, zwei Richterstellen selbst zu besetzen und nur einen der AfD zu überlassen, jeweils mit der Kanzlermehrheit aus CDU/CSU und AfD. Alle diese Lösungen entsprächen durchaus dem Wählerwillen unter Berücksichtigung der Fraktionsstärken des Bundestages und den notwendigen Mehrheiten zur erfolgreichen Nachbesetzung von Richtern des BVerfG.
Dass die SPD nach einem Aufgeben der beiden oder jedenfalls der noch verbliebenen Brandmauer zur AfD die Regierungskoalition mit der CDU/CSU aufkündigen würde, mag wahrscheinlich sein, würde aber bedeuten, dass die CDU/CSU mit ihrem gewählten Kanzler als Minderheitsregierung von Fall zu Fall Mehrheiten für anstehende Gesetzgebungsverfahren suchen oder eine Koalition mit der AfD eingehen müsste. Das eine oder das andere sollte sie tun, bevor sie nach einer erneut vorgezogenen oder der nächsten regulären Bundestagswahl womöglich mit der AfD um den ersten Platz im Parlament ringen müsste. Nach guter Regierungsarbeit könnten auch Protestwähler zur CDU/CSU wie SPD zurückkehren.
Ganz gleich, ob es zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages kommen würde oder nicht: allein schon die endgültige Aufhebung beider oder jedenfalls der verbliebenen Brandmauer zur AfD würde einem politischen Erdbeben gleichkommen, wahrscheinlich auch Unruhe in der CDU/CSU hervorrufen. Es wäre dann aber die Aufgabe der Vorsitzenden der Unionsparteien, ihren Abgeordneten aufzuzeigen, was ein Verbleib in der Koalition mit der SPD bedeuten würde: immer wieder würde die SPD direkt oder indirekt mit der Aufkündigung der Koalition mit der CDU/CSU und vorgezogenen Neuwahlen drohen, was die Situation der CDU/CSU immer schwieriger machen würde, bis sie – womöglich – nicht mehr die, obwohl stärkste, aber eben nicht mehr die entscheidende Kraft im Bundestag wäre.
Die Verantwortlichen in der Union müssen also handeln: das Aufgeben der beiden oder der noch bestehenden Brandmauer zur AfD scheint die letzte Möglichkeit für die CDU/CSU zu sein, den selbst geschaffenen politischen Einengungen zu entkommen und den Mehrheiten im Parlament Rechnung zu tragen und dabei nun – endlich – auch für eine zügige und dem Gesetz entsprechende Nachbesetzung des BVerfG zu sorgen.
Die Frage aber ist: würden die Linke und die AfD zu einer 2/3-Koalition mit der CDU/CSU oder andernfalls die AfD alleine zu einer Koalition (mit Kanzlermehrheit) mit der CDU/CSU bereit sein, um so auch nur die anstehende Nachwahl von Verfassungsrichtern durchzuführen? Die zuverlässige und zügige Erfüllung dieses bereits in Verzug geratenen Verfassungsauftrags wird sich in der Wahl des nächsten Bundestages niederschlagen. Daran sollten nicht nur die CDU/CSU, sondern alle im Bundestag vertretenen Parteien denken. Für die CDU/CSU könnte dies allerdings zu einer existentiellen Frage werden.
(vera-lengsfeld.de)