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Politischer Dadaismus

Nach Kreißsaal und Hörsaal nun im Plenarsaal

Von Hans Hofmann-Reinecke

Stellen wir uns vor: Eine Bewegung, die allem widerspricht – der überlieferten Tradition ebenso wie dem nüchternen Menschenverstand. Und doch gelingt es ihr, sich der Gesellschaft zu bemächtigen. Zuerst war es die Kunst, heute ist es das Schicksal unseres Landes. Wie konnte es so weit kommen?

Mona Lisa mit Schnurrbart
Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Europa eine Gruppe von Künstlern, die sich darauf geeinigt hatten, keine Kunst mehr im herkömmlichen Sinne zu produzieren, sondern das exakte Gegenteil. Sie schufen Objekte, die genau das verhöhnten, was die schönen Künste der Vergangenheit ausgezeichnet hatte: Ästhetik, Proportion, Respekt und ein Hauch von Spiritualität. Ihre Argumentation war, dass es nach dem fürchterlichen Krieg keinen Platz mehr dafür gäbe. Sie ächteten diese Werte ebenso wie alle Logik, Vernunft und bürgerliche Tradition, da sie überzeugt waren, dass diese genau ins Unheil geführt hätten.

Ihre Bewegung nannten sie „Dada“. Ihre Werke sollten das Publikum nicht durch Schönheit oder Ausdruckskraft anziehen, sondern durch schiere Provokation. So etwa stellte ihr bedeutendster Protagonist, Marcel Duchamp, ein signiertes Urinal aus und malte Leonardos Mona Lisa einen Schnurrbart auf die Oberlippe.

Ein Bürgertum, das kein Vertrauen in die eigene Urteilskraft besaß, ließ sich von Dada verhöhnen. Man lauschte aufmerksam den Interpretationen, welche die Schöpfer ihren Werken gaben, und demonstrierte durch deren Erwerb, dass man keineswegs spießig, sondern durchaus in der Lage war, den Wert dieser avantgardistischen Objekte zu erkennen. Man feierte des Kaisers neue Kleider.

Salz ohne Suppe
Es könnte noch eine andere Erklärung für dieses Phänomen geben. Vielleicht waren sich die Dadaisten insgeheim darüber im Klaren, dass sie weder die handwerklichen noch die kreativen Talente der Genies der vergangenen Generationen besäßen, dass sie weder Rodin noch Monet oder Cézanne jemals das Wasser reichen könnten, und so versuchten sie es erst gar nicht. Sie malten der armen Mona Lisa eben einen Schnurrbart, so wie es ein Sechsjähriger in Papas Kunstlexikon tun könnte, und erhöhten ihr Werk durch eine scheinbar tiefgründige Erklärung, auf die ein naiver Mäzen dann hereinfiel. Es war die klassische Symbiose der Bohème mit der von ihr heimlich verachteten Bourgeoisie.

Gesellschaftlich gesehen ist die Bohème das Salz in der Suppe. Und so wie Suppe ohne Salz zwar fade, aber doch essbar ist, so wäre Salz ohne Suppe ungenießbar. Eine bürgerliche Gesellschaft kann ohne Bohème existieren; das ist vielleicht langweilig, aber man überlebt. Nicht überleben könnte eine Gesellschaft, in der die Bohème das Sagen hat.

SS-Uniformen in Bayreuth
Ich behaupte, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neuer Dadaismus entwickelt hat, dem das Bürgertum erneut auf den Leim ging: Einerseits in Sachen Kunst – Bayreuth, die Bühne eine Tiefgarage, Tristan in SS-Uniform und Eva Braun als Isolde –, aber außerdem, und viel tragischer, in unserer gesamten Zivilisation.

Die Eltern oder Großeltern der neuen Dadaisten hatten das Nachkriegsdeutschland aufgebaut, das Wirtschaftswunder vollbracht und ihren Kindern ein Leben in Sicherheit und Wohlstand ermöglicht. Einige von denen ahnten, dass sie mit den Leistungen ihrer Vorfahren niemals gleichziehen könnten. Dass sie weder über die professionelle noch die charakterliche Ausstattung dafür verfügten, und sie entschlossen sich, es gar nicht erst zu versuchen. Stattdessen desavouierten sie deren Pflichtgefühl: „Mit den klassischen Sekundärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Gehorsam kann man auch ein KZ betreiben.“ Der kluge Autor dieses Satzes und ehemalige Ministerpräsident kann nun erfahren, dass man ohne diese „Sekundärtugenden“ keine Eisenbahn, kein Krankenhaus und keine Wirtschaft betreiben kann.

Fachidioten bei der Arbeit
Die neuen Dadaisten eroberten zunächst die Verwaltungen der Hochschulen. Sie tendierten zu Geistes- oder Sozialwissenschaften und verachteten Ingenieure und Naturwissenschaftler als „Fachidioten“. Während letztere für das nächste Examen büffelten, investierten sie ihre Energie, um die politische Kontrolle an den Universitäten zu übernehmen. Dann folgte der Marsch durch die Institutionen. Nach Kreißsaal und Hörsaal finden sich unsere Dadaisten nun im Plenarsaal der Bundesrepublik wieder. Hier fällen sie Entscheidungen, die eben derjenigen Kriterien entbehren, die in den Jahrzehnten zuvor Sicherheit und Wohlstand garantiert hatten. Die Argumentation ist, dass es nach dem fürchterlichen Dritten Reich keinen Platz mehr für Logik, Vernunft und Vaterland gäbe, da genau diese Werte die Nazis hervorgebracht hätten.

Während mit den ersten Dadaisten die Schönheit aus dem täglichen Leben verschwunden ist – Architektur, Theater, urbanes Leben – ruinieren die neuen Dadaisten all das, was unser Land einmal attraktiv gemacht hat. Und wieder ist es eine schweigende Mehrheit, deren Mangel an Vertrauen in die eigene Urteilskraft all das zulässt.

Der Einfluss von Menschen, die ihre Motivation aus Minderwertigkeitskomplexen schöpfen, wird immer verheerende Folgen haben. Das war so bei den Dadaisten der Kunst und ist so bei den heutigen politischen Dadaisten. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Die Dadaisten von damals besaßen etwas, was die heutigen politischen Dadaisten vollkommen vermissen lassen – Humor und Selbstironie.

(Anregungen zu diesem Text stammen von Norbert Bolz und Sir Roger Scruton).
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(vera-lengsfeld.de)

 

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