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Samson und Nadjeschda

Wer wissen will, wie es um die Ukraine wirklich bestellt ist, muss Kurkow lesen

Von Vera Lengsfeld

Das neue Buch von Andrej Kurkow, beweist erneut, dass ihr berühmtester Gegenwartsautor tatsächlich der Bulgakow der Ukraine genannt werden kann. Wer wissen will, wie es um die Ukraine wirklich bestellt ist, muss Kurkow lesen. Darauf habe ich auf diesem Blog wiederholt hingewiesen. Nun wendet sich Kurkow der Vorgeschichte zu. Dramatischer hat kaum je ein Roman begonnen: „Das Geräusch des Säbels, der auf den Kopf seines Vaters krachte, betäubte Samson. Aus den Augenwinkeln sah er das Aufblitzen einer funkelnden Klinge und trat in eine Pfütze. Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben – er schlug ihm das rechte Ohr ab. Samson sah es fallen, konnte noch die rechte Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es fest umschlossen…“

Vater und Sohn waren im Kiew von 1919 auf dem Weg zum Schneider, um einen Anzug abzuholen. Der fliehende Kosake hatte wahllos auf die beiden eingeschlagen. Seit zwei Jahren war die Stadt den Bürgerkriegswirren ausgesetzt. Weiße und rote Herrscher wechselten sich manchmal im Tagesrythmus ab. Die Leichen der kämpfenden Parteien lagen tagelang auf den Straßen nebeneinander. Um sie zu identifizieren, durchsuchte man ihre Manteltaschen. In Zeiten wie diesen, in denen man morgens nicht wusste, ob man den Abend noch erleben würde, trug man alle wichtigen Dokumente mit sich herum.

Dem Kosaken folgten die Rotarmisten. Für die Bürger änderte sich nicht viel. Plündern wurde jetzt „requirieren“ genannt. Man bekam für die geraubten Möbel und Wertgegenstände eine Bescheinigung. Wer sich wehrte, weil sein letztes Bett weggetragen wurde, den stieß man mit dem Bajonett in den Bauch, wie Samson miterleben musste. In der Stadt gab es nur stundenweise Strom, Wasser ebenfalls. Die Kiewer hungerten, den die meisten Fabriken arbeiteten nicht mehr. In diesem Chaos wurde die neue Ordnung aufgebaut. Für Samson bedeutete das, dass zwei Rotarmisten sich samt ihrer Beute im Arbeitszimmer seines Vaters einquartierten. Eines nachts hörte er die beiden flüsternd beraten, ob sie ihn einfach töten sollten.

Samson begriff, dass er sie hören konnte, weil er sein rechtes Ohr in einer Bonbondose im Schreibtisch seines Vaters deponiert hatte. Dieser Schreibtisch wurde am nächsten Tag requiriert, weil die Rotarmisten mehr Platz brauchten. Samson folgte dem Schreibtisch bis zur alten Polizeiwache, wo sich jetzt die neue, sowjetische Miliz einquartiert hatte. Natürlich bekam er seinen Schreibtisch nicht zurück, aber weil er ein fehlerfreies, wohl formuliertes Gesuch geschrieben hatte, ein Jobangebot. Er sollte sich der Miliz als Ermittler anschließen. Wegen des Essens in den neu errichteten sowjetischen Kantinen willigte Samson ein. Der zweite Grund war, dass er seine Rotarmisten loswerden konnte, indem er sie wegen ihrer geraubten Beute anzeigen konnte.

Wie aus Samson, der eigentlich Elektroingenieur werden wollte, ein erfolgreicher Ermittler wurde, ist eine überaus spannende Geschichte. Während sich sein Held auf Verbrecherjagd durch Kiew bewegt, erhält der Leser einen Einblick in die Zustände während des Bürgerkrieges, als die dünne Schicht der Zivilisation zerbrach und Gewalt und Chaos herrschten. Das Samson nicht daran zerbrach oder selbst zum Gewalttäter wurde, verdankt er Nadjeschda, mit der er eine zauberhafte Liebesgeschichte erlebt.

Wer das Buch zu lesen beginnt, legt es nicht mehr aus der Hand. Am Ende erfährt er, dass es eine Fortsetzung geben wird und beginnt, darauf zu warten.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda, Diogenes, 2022
Sehr lesenswert waren auch Graue Bienen und Picknick auf dem Eis, zu deren Besprechungen ich oben verlinkt habe.
(vera-lengsfeld.de)

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