Verjährung ein Gebot der praktischen politischen und geistigen Vernunft
Von WOLFGANG HÜBNER
Einmal mehr hat mit Bundespräsident Steinmeier ein deutscher Spitzenpolitiker das polnische Volk um Vergebung gebeten. Anlass dazu war sein Besuch in Polen bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands gegen die deutschen Besatzer im August 1944. Ob und wie das polnische Volk seinen westlichen Nachbarn vergeben wird, ist ungewiss, denn es werden auch noch der 90. und 100. Jahrestag des für Polen wichtigen Geschehens kommen. Dann dürften wahrscheinlich andere deutsche Bundespräsidenten wieder die Reise nach Warschau antreten.
Und es ist zu erwarten, dass dann auch in zehn oder zwanzig Jahren das Schuldritual wiederholt werden wird. Die Frage ist allerdings heute schon: Wem nutzt das noch? Als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau auf die Knie sank, um mit dieser so berührenden wie umstrittenen Geste Buße für die nationalsozialistischen Verbrechen in Polen zu demonstrieren, zugleich aber um Vergebung zu bitten, dann war das vor fast 54 Jahren ein hochsymbolischer Akt, der zurecht weltweit beachtet und gewürdigt wurde.
Was nun aber Steinmeiers Auftritt betrifft, wird der in Deutschland niemand mehr tiefer bewegen und in Polen lediglich denen wieder Auftrieb geben, die von Berlin astronomische hohe Reparationszahlungen verlangen wollen. Solche ritualisierte Gedenkpolitik spaltet nicht nur Polen und Deutsche, sondern in Europa mit seiner kriegerischen Geschichte mehr als dass sie zum Versöhnen taugt. Es ist ausgerechnet ein polnischer Autor, der in einem fulminanten Aufsatz in der letzten Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift „Tumult“ eine radikale Abkehr von der längst routinierten Gedenkpolitik vorschlägt.
Tomasz Gabis schlägt in Anlehnung an die Überlegungen anderer polnischer Intellektueller das Prinzip der Verjährung vor: „Ein Verhältnis zur Vergangenheit, das dieses Prinzip beherzigt, wäre von Vorteil für ganz Europa, für alle seine Völker, und es wäre auf alle Probleme zwischen- und innerstaatlicher Natur anzuwenden, die nach dem Zweiten Weltkrieg oder, die Sache weiterfassend, nach dem Großen Europäischen Bürgerkrieg 1914 – 1989 verblieben sind“. Verjährung hieße natürlich nicht totales Vergessen und Verschweigen. Denn die Erinnerung an vergangenes Leid oder auch eigene Schuld soll keiner Nation genommen oder gar bestritten werden.
Aber Verjährung, die längst überfällig ist, soll den Weg frei machen zu einem neuen, von der Vergangenheit nicht übermäßig belasteten Verhältnis der Europäer untereinander. Das ist nichts weniger als ein Gebot der praktischen politischen und geistigen Vernunft. Und dann müsste auch kein Steinmeier nach Warschau fahren, um deutsche Selbstgeißelung zu simulieren, die in den nachgekommenen Generationen beider Nationen niemanden mehr zu beeindrucken vermag.
(pi-news.net)