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Historisches Erinnern

Wer oder was ist eigentlich die Ukraine?

Von David Cohnen

Der Artikel "Keinen Zentimeter nach Osten" in der Volksstimme vom 6. Mai 2024 stellt die Position des ehemaligen US-Botschafters in Moskau, Jack F. Matlock, umfassend dar. Matlock äußert sich darin nicht nur zur aktuellen Lage in der Ukraine, sondern auch zu historischen Vereinbarungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion rund um das Ende des Kalten Krieges.

Zur Unmöglichkeit einer vollständigen Rückeroberung ukrainischer Gebiete
Matlock hält es für illusorisch und nicht im Interesse der Ukraine, die aktuell von Russland besetzten Gebiete vollständig zurückzuerobern. Er argumentiert, dass in diesen Gebieten - insbesondere im Donbass und auf der Krim - mehrheitlich russischsprachige Menschen leben, die von der derzeitigen ukrainischen Regierung nicht mehr als "echte Ukrainer" betrachtet würden. Eine Rückgewinnung würde also keinen nachhaltigen Frieden schaffen, so seine Einschätzung.

Warnung vor einem langen Krieg
Ein längerer Krieg könnte noch mehr ukrainisches Territorium kosten, warnt Matlock. Er sieht die staatliche Tragfähigkeit der Ukraine gefährdet, insbesondere dann, wenn sie sich weiterhin vor allem über eine anti-russische Haltung definiere. Eine solche Identitätspolitik sei langfristig nicht tragfähig.

NATO-Osterweiterung - gebrochene Versprechen
Einen zentralen Punkt des Artikels bildet Matlocks Aussage, dass amerikanische, britische und deutsche Offizielle im Jahr 1990 gegenüber Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse mehrfach betonten, dass sich die NATO nicht über die Grenzen des damaligen Deutschlands hinaus erweitern werde. Außenminister James Baker habe wörtlich gesagt, die NATO werde "keinen Zentimeter nach Osten" rücken. Diese Aussagen seien zwar nicht schriftlich fixiert, aber laut Matlock ein klarer Bestandteil der damaligen Gespräche gewesen.

Historische Relativierung der ukrainischen Grenzen
Matlock weist darauf hin, dass die heutigen Grenzen der Ukraine durch autoritäre Führer wie Stalin, Hitler und Chruschtschow geschaffen wurden. Besonders die Krim sei durch einen einseitigen sowjetischen Akt 1954 von Russland an die Ukraine übergeben worden. Er stellt provokativ die Frage, warum heute Blut vergossen werde, um die Grenzen dieser Diktatoren aufrechtzuerhalten. Zudem warnt er vor einer neonazistischen Bewegung in der Westukraine, die Russland als ernsthafte Bedrohung wahrnehme - eine Behauptung, die im Westen oft heruntergespielt werde.

USA und Westen hätten Situation "ausgenutzt"
Matlock erinnert an das Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und George Bush sen. auf Malta 1990, bei dem die UdSSR zusicherte, nicht in Osteuropa zu intervenieren. Im Gegenzug hätten die USA versprochen, diese Lage nicht zu ihren Gunsten zu nutzen. Die Ausweitung der NATO in diese Region sieht Matlock daher als klaren Bruch dieser stillschweigenden Übereinkunft - der Westen habe die Schwäche Moskaus nach dem Kalten Krieg strategisch ausgenutzt.

Kritik an der ukrainischen Regierung und am Westen
Matlock zeigt sich sehr kritisch gegenüber der aktuellen ukrainischen Regierung, die er als diktatorisch und korrupt bezeichnet. Die Behauptung des Westens, man verteidige durch Waffenlieferungen an die Ukraine "die Demokratie", sei reine Propaganda. Auch Angela Merkel und Emmanuel Macron kritisiert er, da sie die Minsk-Abkommen nicht ernsthaft durchsetzen wollten. Merkel habe sogar zugegeben, man habe sie nur genutzt, um der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen - ein Vorgehen, das den Konflikt unnötig verschärft habe.

Verhandlungen als einziger Ausweg
Abschließend erinnert Matlock daran, dass der Kalte Krieg durch Verhandlungen beendet wurde. Ein ähnlicher Weg sei auch heute möglich gewesen - denn kurz nach Kriegsbeginn habe es zwischen Russland und der Ukraine Aussichten auf ein Abkommen gegeben, das auch beinahe zustande gekommen sei. Doch angeblich habe der damalige britische Premier Boris Johnson Kiew von der Einigung abgeraten - wohl auf Druck der USA.

Fazit
Der Artikel wirft einen ungewöhnlich kritischen Blick auf die westliche Ukraine-Politik und stellt viele gängige Narrative infrage. Jack F. Matlock plädiert für historisches Erinnern, verantwortungsvolle Diplomatie und warnt eindringlich vor einer Fortsetzung des Krieges, der in seinen Augen weder für die Ukraine noch für den Westen einen strategischen Gewinn bedeutet.

Weitere Überlegungen
Die Ukraine - ein Verteidiger "westlicher Werte"?
Nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 war die Ukraine mehrere Jahre lang Schauplatz politischer Umbrüche, Bürgerkriege und wechselnder Herrschaftsverhältnisse. In dieser Zeit entstanden kurzlebige, formal unabhängige Staatsgebilde, etwa die Ukrainische Volksrepublik. Ab 1922 wurde die Ukraine als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Teil der neu gegründeten Sowjetunion. Einen dauerhaft souveränen und international anerkannten ukrainischen Nationalstaat gibt es erst seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991.

Angesichts dieser historischen Entwicklung wirkt es zumindest fragwürdig, mit welcher Selbstverständlichkeit die Ukraine heute im westlichen Diskurs - insbesondere in der Europäischen Union und in Deutschland - als Verteidigerin "westlicher Werte" dargestellt wird. Die politische Realität des Landes ist deutlich komplexer als das vereinfachende Narrativ von "Freiheit gegen Diktatur" suggeriert.

So wurde im Jahr 2014 der demokratisch gewählte Präsident Wiktor Janukowytsch infolge des sogenannten Euromaidan gestürzt - ein Machtwechsel, der nicht allein aus innenpolitischer Dynamik hervorging, sondern unter aktiver Einflussnahme westlicher Regierungen und Stiftungen erfolgte (z.?B. Gespräch Nuland-Pyatt, 2014). In den Folgejahren kam es zu erheblichen Einschränkungen der Pressefreiheit, zur Schließung regierungskritischer Fernsehsender, zur Verfolgung und zum Verbot mehrerer Oppositionsparteien sowie zu einer schrittweisen Verdrängung der russischen Sprache, die für einen erheblichen Teil der Bevölkerung Muttersprache ist.

Auch in Fragen der Religionsfreiheit ist die Situation angespannt: Die ukrainische Regierung geht seit Jahren gezielt gegen die russisch-orthodoxe Kirche vor, deren Institutionen und Geistliche unter dem Generalverdacht russischer Einflussnahme stehen. In einigen Fällen wurden kirchliche Liegenschaften enteignet, Priester verhaftet oder Gesetze initiiert, die faktisch auf ein Verbot der moskau-loyalen Kirche hinauslaufen (vgl. Human Rights Watch, 2023).

Hinzu kommen die politische und militärische Integration offen nationalistischer Gruppierungen wie des Asow-Regiments sowie die staatlich geförderte Glorifizierung historisch belasteter Akteure, etwa der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der UPA, die im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS kollaborierten und an Massakern an polnischen und jüdischen Zivilisten beteiligt waren.

Die unreflektierte Gleichsetzung der Ukraine mit den "westlichen Werten" wirkt vor diesem Hintergrund verkürzt und ideologisch aufgeladen. Wer ernsthaft für demokratische Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und religiöse Toleranz eintritt, sollte diese Prinzipien auch dann nicht relativieren, wenn geopolitische Interessen berührt sind. Andernfalls droht der Begriff der "westlichen Werte" zu einer inhaltsleeren Formel zu verkommen - instrumentalisiert, wo er gerade passt, und ignoriert, wo er stört.

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