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Recht und Ordnung

Lieber das amerikanische oder das deutsche Modell?

Von David Cohnen

Der Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland wird häufig emotional oder ideologisch geführt. Dabei bietet gerade der rechtsstaatliche Umgang mit Normdurchsetzung und staatlicher Verantwortung einen sachlichen Zugang, um strukturelle Unterschiede sichtbar zu machen. Besonders aufschlussreich ist der Blick auf jene Bereiche, in denen der Staat Aufgaben ganz oder teilweise an private Akteure überträgt. Während beide Länder Formen privater Beteiligung kennen, unterscheiden sich Zweck, Reichweite und innere Logik dieser Modelle fundamental.

Das amerikanische Modell: Risiko, Verantwortung und Begrenzung

In den USA existiert mit dem Bail-Bonds-System eine Form privater Beteiligung an der Strafverfolgung, die häufig mit dem Begriff des Kopfgeldjägers verbunden wird. Dieses System greift ausschließlich bei schweren Straftaten, etwa bei Mord- oder Gewaltdelikten, und stets erst nach einer richterlichen Entscheidung.

Kann ein Angeklagter die vom Gericht festgesetzte Kaution nicht selbst aufbringen, übernimmt eine spezialisierte Bail-Bond-Firma diese Aufgabe gegen eine Gebühr. Entscheidend ist dabei, dass diese Firma das volle finanzielle Risiko trägt: Taucht der Beschuldigte unter oder entzieht sich dem Verfahren, verliert sie die hinterlegte Kaution. Aus diesem Risiko ergibt sich ein unmittelbares Eigeninteresse daran, dass der Angeklagte der Justiz wieder zur Verfügung steht. Die Beauftragung von Kopfgeldjägern dient somit nicht der Suche nach Verstößen, sondern der Durchsetzung bereits getroffener staatlicher Entscheidungen.

Das private Handeln ist in diesem Modell klar begrenzt. Es betrifft nur schwere Delikte, ist an konkrete gerichtliche Verfahren gebunden und erfolgt unter voller Haftung des privaten Akteurs. Privates Interesse und staatliches Ziel fallen hier weitgehend zusammen.

Das deutsche Modell: Ordnung ohne Risiko

In Deutschland zeigt sich ein grundlegend anderes Bild. Auch hier wird Rechtsdurchsetzung in bestimmten Bereichen faktisch an private Akteure ausgelagert. Dies geschieht jedoch überwiegend bei Ordnungs- und Nebenverstößen, also bei Handlungen, die weder Leib noch Leben gefährden und oft keinen messbaren Schaden verursachen.

Der Staat erlässt eine Vielzahl formaler Pflichten, deren vollständige Einhaltung er weder kontrollieren noch durchsetzen kann. Anstatt diese Aufgabe selbst wahrzunehmen, öffnet er die Verfolgung solcher Verstöße für Dritte. Rechtsanwaltskanzleien und spezialisierte Akteure haben daraus Geschäftsmodelle entwickelt, die auf der systematischen Identifikation formaler oder sprachlicher Grenzüberschreitungen beruhen.

Im Gegensatz zum amerikanischen Modell tragen diese Akteure kein vergleichbares Risiko. Sie haften nicht für Fehlbewertungen, tragen keine Verantwortung für Verhältnismäßigkeit und profitieren gerade von der Masse leichter Fälle. Der wirtschaftliche Anreiz liegt nicht in der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, sondern in der Verwertbarkeit des Verstoßes.

Abmahnungsmodelle und politische Eskalation

Besonders sichtbar wird dieses System im politischen Raum. In aufgeheizten Debatten überschreiten Bürger mitunter aus Erregung oder Unbedachtheit sprachliche oder formale Grenzen. Die Reaktion erfolgt dann häufig nicht durch staatliche Zurückhaltung, sondern durch massenhafte Abmahnungen oder Anzeigen, angestoßen durch beauftragte Kanzleien oder Dienste.

Diese Verfahren führen nicht selten zu empfindlichen Strafen oder erheblichen Kosten, obwohl die zugrunde liegenden Verstöße bei nüchterner Betrachtung als tatsächlich, aber harmlos einzustufen sind. Die Sanktion steht dann in keinem angemessenen Verhältnis zur Wirkung der Handlung. Meinungsäußerung wird nicht durch offene Auseinandersetzung begrenzt, sondern durch formale Rechtsdurchsetzung diszipliniert.

Typische Bagatellverstöße als Geschäftsgrundlage

Ein Blick auf die Praxis zeigt, dass sich die Tätigkeit spezialisierter Abmahnakteure regelmäßig auf eine überschaubare, aber äußerst ergiebige Gruppe formaler Bagatellverstöße konzentriert. Gemeinsam ist diesen Verstößen, dass sie für Dritte in aller Regel keinen oder nur einen theoretischen Schaden verursachen, rechtlich jedoch leicht angreifbar sind.

Zu den häufig genutzten Ansatzpunkten zählen unter anderem:

  • Ungenaue Wohnflächenangaben bei Verkauf oder Vermietung, selbst wenn die Abweichung gering ist und die Nutzung der Immobilie faktisch nicht beeinträchtigt wird.
  • Formale Fehler in Firmenbezeichnungen, etwa bei unvollständigen oder leicht abweichenden Angaben zur Rechtsform oder zum vertretungsberechtigten Organ.
  • Unvollständige oder veraltete Pflichtangaben in Vertragsunterlagen, AGB oder Begleittexten, ohne dass der Vertragspartner tatsächlich irregeführt wurde.
  • Kennzeichnungs- und Informationspflichten, bei denen geringfügige Abweichungen von Wortlaut oder Platzierung bereits als Verstoß gelten.
  • Formale Verstöße im Online- und Medienbereich, etwa bei der Darstellung von Angeboten, Hinweisen oder rechtlichen Texten, die für den Nutzer kaum Relevanz besitzen.
  • Sprachliche Grenzüberschreitungen in politischen oder gesellschaftlichen Debatten, die zwar tatsächlich unbedacht oder überspitzt formuliert sind, jedoch keine reale Gefährdung darstellen.

Auch im Bereich der Veröffentlichung von Büchern und Texten finden sich solche Mechanismen. Die Pflicht zur Offenlegung einer vollständigen ladungsfähigen Anschrift des Autors wird mitunter so ausgelegt, dass sie faktisch zur Preisgabe der privaten Wohnadresse führt. Der ursprüngliche Zweck der Erreichbarkeit tritt dabei in den Hintergrund, während ein reales Sicherheitsrisiko entsteht. Die Vorstellung, dass jeder Leser im Zweifel weiß, wo ein Autor wohnt, verdeutlicht die Schieflage zwischen formaler Ordnung und persönlichem Schutzinteresse.

All diese Beispiele zeigen, dass nicht gravierende Rechtsverletzungen im Fokus stehen, sondern solche Konstellationen, in denen der Aufwand gering, die Beweislage eindeutig und der wirtschaftliche Ertrag kalkulierbar ist. Der Bagatellverstoß wird so zur idealen Ware eines privatisierten Durchsetzungssystems.

Fazit

Der Vergleich zeigt, dass private Beteiligung an Rechtsdurchsetzung nicht per se rechtsstaatswidrig ist. Entscheidend ist, ob sie an Verantwortung, Risiko und klare Grenzen gebunden ist. Das amerikanische Modell mag in seiner Erscheinung hart wirken, ist jedoch konsistent und zielgerichtet. Das deutsche Modell erscheint milder, entfaltet aber durch seine Breitenwirkung eine erhebliche abschreckende Kraft.

Ein Rechtsstaat, der seine Ordnung nicht selbst durchsetzt, sondern ihre Verletzung zur Einnahmequelle Dritter werden lässt, verliert an Autorität. Nicht die Vielzahl der Regeln entscheidet über die Stärke des Rechts, sondern die Bereitschaft des Staates, Verantwortung für ihre Durchsetzung zu übernehmen.

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