Werden wiederholte Lügen irgendwann zur Wahrheit?
Von PETER M.
Wenn Lügen wiederholt werden, muss man ihnen wiederholt widersprechen. Das wirkt pedantisch, ist aber notwendig, denn sonst wird die Lüge zur Wahrheit und kann ihre schädliche Wirkung ungehemmt entfalten. Die Lüge, um die es geht und die gerade in der Gegenöffentlichkeit von vielen verbreitet wird, ist die Lüge von 2015 als migrationspolitische Urkatastrophe, verursacht alleine von Angela Merkel.
Diese Lüge ist einfach zu entlarven. Denn Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch “Deutschland schafft sich ab” über die fatalen Wirkungen der Migrationspolitik schon 2010 und beschrieb Entwicklungen, die schon lange vorher begonnen hatten, auch unter CDU/FDP-Regierungen. Wer 2015 für die migrationspolitische Urkatastrophe hält, muss Sarrazins Befund leugnen. Das wäre absurd.
Aber durch die Fixierung auf 2015 wird genau dieser fatale und der Hauptstrompolitik unglaublich nützliche Irrtum erweckt: dass vorher alles in Ordnung gewesen sei. Stattdessen aber ist 2015 in die Kontinuität einer interessenwidrigen und selbstzerstörerischen Migrationspolitik zu stellen. 2015 wurden nur bestehende Prozesse zusätzlich beschleunigt und brachen längst mürbe gewordene Abgrenzungsmechanismen unter dem Flüchtlingsansturm zusammen.
Man muss doch bedenken, wie schwach der Schutz der eigenen Grenzen durch die Dublin-Regeln war, die damals gebrochen wurden. Diese sehen vor, dass der nicht einreisen darf, der sich schon in einem sicheren Drittland befindet. Das weist den Anspruch des Migranten auf Schutz aber nicht im eigenen Interesse ab. Es weist seine Erfüllung nur einem anderen, dem Drittstaat, zu. Wenn die Menschen dann trotzdem an der eigenen Grenze stehen, ist man mental nicht darauf vorbereitet, sie abzuweisen.
Die Beschwörung von 2015 verdeckt das, und mehr: Sie verdeckt, dass die Einwanderung schon vor 2015 überwiegend schädlich war, und dass auch die Politik bürgerlicher Parteien dies ermöglicht hatte. Sie verdeckt, dass nicht mittige Bürger und Liberalkonservative, sondern Rechte Recht gehabt haben. Sie verdeckt, dass man schon lange vor 2015, in den 1980er- und 1990er-Jahren, die Freuden eines Lebens in Bezirken mit hohem Migrantenanteil erleben konnte. Nur gehörte man dann zu Schichten, für die sich die saubere bürgerliche Mitte nicht interessiert. Die Lüge von 2015 verhöhnt die Opfer und Schäden vor 2015, und sie verhöhnt die, die schon damals politischen Widerstand leisteten, während die bürgerliche Mitte noch auf christdemokratische Pseudorebellen hoffte – und dies eigentlich immer noch tut.
Kennzeichnend für die Qualität dieser falschen Erinnerung ist auch, dass sich die 2015-Besessenen nie fragen, ob Merkel damals mit Erfolg anders hätte handeln können. Machtpolitisch kam sie mit ihrer Entscheidung durch. Starke innerparteiliche Widerstände hatte sie nicht zu überwinden. Soll man wirklich glauben, dass sie im Falle einer Schließung und gewaltsamen Verteidigung der Grenzen aus der „bürgerlichen Mitte“ die Unterstützung erhalten hätte, um dem linken Aufschrei in Medien und Gesellschaft widerstehen zu können?
Die schweigende Mehrheit hätte wohl weiter geschwiegen. Man denke auch an die jüngsten Erfahrungen mit Bürgerlichen: Die FDP wurde anstelle einer ergrünten CDU gewählt und ermöglichte die grünrote Transformation. Die Merz-CDU ermöglichte die rote Schuldenorgie und mehr. Bürgerliche Mitte hat keine politische Substanz, kein Stehvermögen. Auch das soll die Fixierung auf 2015 verdecken.
Die Fixierung auf 2015 widerlegt auch das konservative Selbstbild als Anwalt der Realität. Die gilt Konservativen ja als so komplex, dass sie von keiner Ideologie erfasst werden kann. Wenn Konservative wirklich so dächten, dann müsste die Erinnerung an 2015 in eine lange Erzählung der Migrationskatastrophe eingebettet sein, die viele Quellen, Verzweigungen, Akteure, Elemente und Wechselwirkungen hätte. Die Fixierung auf ein Datum und Angela Merkel ist das genaue Gegenteil davon.
Zu den Faktoren, die 2015 begünstigten, ohne direkt migrationspolitisch zu sein, gehören die europapolitischen Entscheidungen der Ära Kohl, die ihrerseits in das Projekt Europa der CDU seit Adenauer eingebunden waren. Dass Staaten Grenzen haben und einen an diesen zurückweisen können, war Teil der alltäglichen Lebenswirklichkeit – bis diese Grenzkontrollen durch das Schengen-System abgeschafft wurden. Dass Staaten getrennte Wirtschaftsräume sind, machten ihre Währungen sichtbar – bis der Euro sie beseitigte. Und dass Staaten eine eigene Staatsgewalt ausüben, geriet durch die zunehmende Europäisierung immer mehr in Vergessenheit. Kein Wunder, dass Grenzschließungen als unnatürlich angesehen werden konnten.
Um die Lüge von 2015 als Lüge zu bezeichnen muss man keiner bestimmten „reinen Lehre“ anhängen. Man muss nur ein Interesse an einer breiten, detailreichen Abbildung der Realität haben. Die Fixierung auf 2015 unter Ausblendung der Vorgeschichte ist darum vor allem eins: schlechter Journalismus. Aber auch der dient Interessen. Nämlich dem Interesse einer bürgerlich-mittigen Leserschaft, die nicht an ihre Mitverantwortung für die heutige Lage erinnert werden will und die die Illusion behalten will, dass eine wirklich andere Politik mit den etablierten Parteien zu haben wäre. Letztlich sind sie die besten Kollaborateure, die Merkel und die Linke je hatten, und das bis heute. Man sollte sie endlich entsprechend behandeln.
(pi-news.net)