Höhere Gewalt lässt abstürzen?
Von Gastautor Hans Hofmann-Reinecke
In den vergangenen Jahren sind bei Abstürzen von Boeing-Maschinen viele Menschen ums Leben gek0mmen. Lag es an den Piloten, an den Flugzeugen oder an Höherer Gewalt? Dann verlor im Januar 2024 eine 737 der Alaska Airlines ein „Door Plug“- die Abdeckung einer Öffnung in der Rumpfseite für eine optionale Tür. Gottlob kam dabei niemand ums Leben, aber es offenbarte unverzeihliche Schlampereien in Boeings Qualitätssicherung. Und nun stürzte vor einem Monat ein 787 Dreamliner der Air India nach dem Start ab. Bedeutet das für Boeing das Ende?
Technisches oder menschliches Versagen?
Es waren nicht immer die Flugzeuge an den Tragödien schuld. Zwar war die Ursache für die Abstürze von Lion Air Flight 610 und Ethiopian Airlines Flight 302 ein heimlich in die Steuerung der 737 Max eingebautes System namens MCAS, das einen aerodynamischen Makel kompensieren sollte, der sich durch die Installation größerer Triebwerke ergeben hatte. Durch einen defekten Sensor brachte dieses System die beiden Flugzeuge außer Kontrolle, und die Piloten waren nicht ausreichend trainiert, um rasch rettend einzugreifen. Es war unverantwortlich von Boeing, dass diese Modifikation nicht mit einer obligatorischen Einweisung der Piloten einher ging.
Der Crash der 737 von Jeju Air in Südkorea war Folge von Vögeln, die in die Triebwerke gelangt waren und sie stillgelegt hatten. Den Piloten gelang eine Notlandung, aber die Maschine schoss über das Ende der Piste hinaus und kollidierte mit einem Hindernis in der Verlängerung der Bahn. Ukraine International Airlines Flug 752, eine 737-800, wurde auf dem Flug von Teheran nach Kiew am 8. Januar 2020 kurz nach dem Start vom Flughafen Teheran von iranischen Raketen abgeschossen. Alle an Bord kamen dabei ums Leben. Diese beiden letzteren Tragödien wurden definitiv nicht durch Mängel in den Maschinen verursacht.
Aber wie ist der jüngste Boeing- Absturz der Air India 787, des ersten Dreamliners mit Verlust von Menschenleben zu erklären?
Die Boeing 787 ist ein zweistrahliges Langstrecken-Großraumflugzeug, mit der doppelten Kapazität und doppelten Reichweite der 737. Sie wurde 2011 in Dienst gestellt, heute sind 1200 im Verkehr. Die verunglückte Maschine war 2016 an Air India ausgeliefert worden und hatte in den neun Jahren seither auf 8.200 Flügen 38.000 Stunden in der Luft verbracht.
Am 12. Juni 2025 stürzte die Maschine auf dem Flug Air India 171 mit Ziel London Gatwick kurz nach dem Abflug aus der indischen Stadt Ahmedabad ab. Dabei kamen insgesamt 279 Personen ums Leben: nur einer der 242 Passagiere überlebte, an der Absturzstelle wurden 29 Personen getötet. Was war geschehen? Inzwischen liegt ein vorläufiger Bericht des indischen Aircraft Accident Investigation Bureau vor, in dem die Aufzeichnungen der beiden „Black Boxes“ ausgewertet sind.
30 Sekunden in der Luft
Die Maschine startete 12:40 Ortszeit von der 3500 Meter langen Bahn 23 in südwestlicher Richtung. Gesteuert wurde sie vom Mann im rechten Sitz, dem ersten Offizier. Er war der „Pilot Flying“ (PF). Der Mann im linken Sitz war der Kapitän, er war auf diesem Flug „Pilot Monitoring“ (PM). Er hatte beim Start seine rechte Hand an den beiden Gashebeln und die Augen auf den Instrumenten. Der PF hatte vermutlich beide Hände am Steuer und blickte durch die Frontscheibe, um die Maschine mit den Pedalen entlang der Mittellinie zu lenken. Als der Geschwindigkeitsmesser 290 km/h anzeigte gab der PM dem PF die Aufforderung zu „rotieren“, das heißt die Nase hochzunehmen, und das Flugzeug hob ab.
Jetzt würde der PM dem PF bestätigen, dass die Instrumente Steigflug anzeigen und der PF würde den PM auffordern das Fahrwerk einzuziehen. Das war hier aber nicht der Fall und die Maschine flog mit ausgefahrenen Rädern weiter, was auch auf den CCTV-Videos zu beobachten war. Das ist in dieser Phase des Flugs kein Problem, aber es ist ein erstes Anzeichen, dass irgend etwas im Cockpit nicht richtig ablief.
3 Sekunden nach abheben hatte die Maschine 333 km/h erreicht, eine gute Geschwindigkeit für den weiteren Steigflug. Wie der Flugdatenschreiber zeigt, wurde nur eine Sekunde später das linke Triebwerk durch den „Fuel Cutoff“ Schalter gestoppt. Das ist der elektrische Schalter, der das Ventil für die Treibstoffzufuhr kontrolliert. Eine weitere Sekunde später wurde auch das rechte Triebwerk abgeschaltet. Eine Automatik sorgt dafür, dass bei Ausfall beider Triebwerke die „Ram Air Turbine“ (RAT) unter dem Rumpf des Flugzeugs ausgefahren wird. Das ist eine kleine Windturbine, die Strom und Hydraulik für die notwendigsten Systeme im Flugzeug liefert. Diese RAT war ebenfalls auf den Videos zu erkennen.
Jetzt, 13 Sekunden nach dem Abheben, wurde der Cutoff für Turbine 1 wieder auf „On“ geschaltet, dann auch für Turbine 2. Gleichzeitig sprang die „Auxiliary Power Unit“ im Heck der Maschine automatisch an. Seit dem Abheben waren inzwischen 16 Sekunden vergangen. In diesem Zeitraum wurden vom „Cockpit Voice Recorder“ (CVR) die Worte aufgezeichnet: „Why did you Cutoff?“ und „No, I did not do it“.
Man befand sich 100-150 Meter über Grund und die Triebwerke hatten noch nicht genug Zeit gehabt, um nach dem erneuten Anschalten wieder auf Touren zu kommen und Schub zu erzeugen. Die Maschine fiel jetzt nicht wie ein Stein zu Boden, sondern sie war ein gut 200 Tonnen schwerer Segelflieger geworden, der noch einen halben Kilometer vorwärts glitt, um dann, 28 Sekunden nach Abheben, in bewohntes Gelände zu stürzen. Vorher kam aus dem Cockpit noch der verzweifelte Funkspruch „Mayday, Mayday, kein Schub“.
Was war passiert?
Es ist Routine, dass ein Kapitän seine rechte Hand auf den beiden Gashebeln hat, während das Flugzeug auf der Bahn Anlauf nimmt. So könnte er, falls es notwendig sein sollte den Start abzubrechen, sofort das Gas wegnehmen, um und die Maschine noch vor dem Ende der Bahn zum Stehen zu bringen. Im Normalfall hebt eine Maschine natürlich ab, worauf der Kapitän die Gashebel loslässt. Könnte dem Kapitän beim besagten Flug dabei die Hand versehentlich auf die Cutoff-Schalter unterhalb der Gashebel gerutscht sein? Natürlich waren sich die Konstrukteure bei Boeing dieses Risikos bewusst, und um jegliches ungewollte Absperren des Treibstoffs zu verhindern, müssen die Hebelchen der Schalter erst mit Daumen und Zeigefinger hochgezogen werden, bevor man sie umlegen kann.
Was ebenfalls gegen einen ungewollten Vorgang spräche, ist die Tatsache, dass die Schalter im Zeitabstand von etwa einer Sekunde betätigt wurden. Im oben angenommenen Szenario wären beide Schalter gleichzeitig umgelegt worden.
Die Ermittler der Absturzursache müssen also auch vorsätzliches Handeln in Betracht ziehen. Dafür spricht die Tatsache, dass der Bericht zwar die kurze Konversation wiedergibt „Why did you cut off—“ und „I did not“, aber er verschweigt, wer was gesagt hat. Dem CVR war sicherlich zu entnehmen, von wessen Mikrofon welche Worte kamen, aber man will aus Respekt vor den Verstorbenen keine voreiligen Schlüsse in den Raum stellen. Es wäre wenig plausibel, dass der PF die Schalter umgelegt hätte, ohne dass ihn der Pilot Monitoring = der überwachende Pilot daran gehindert hätte. Umgekehrt hatte der PF seine Augen durch das Fenster auf das Gelände vor sich gerichtet und hätte nicht wahrgenommen, falls der PM die Schalter umlegte. Das wäre ohnehin sehr unauffällig gewesen, denn der hatte ja die rechte Hand ohnehin an den Gashebeln, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Schaltern. Und dass er das Fahrwerk nicht einzog, deutet vielleicht darauf hin, dass er mit den Gedanken in diesen Augenblicken woanders war…
Das sind Möglichkeiten, aber keine Unterstellungen. Sie ergeben sich aus den technischen Gegebenheiten. Es ist aber auch offensichtlich, dass gewaltige „politische“ Interessen das Ergebnis der Untersuchung in die eine oder andere Richtung zu lenken versuchen. Boeing wäre natürlich an dem Urteil „menschliches Versagen“ interessiert. Beim Absturz der 737 Max von Lion Air im Oktober 2018 konnte man die Schuld zunächst tatsächlich auf die mangelnde Qualität der indonesischen Pilotenausbildung schieben. Dieses Urteil musste revidiert werden, als eine 737 Max der Ethiopian Airlines ein halbes Jahr danach auf dieselbe Weise abstürzte. Das MCAS war beides Mal die Ursache.
Wollen wir hoffen, dass bei diesem Unglück die Wahrheit ans Licht kommt. Es wäre zum Wohle aller Flugreisenden, bzw. auch deren Hinterbliebenen.
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(vera-lengsfeld.de)