Geschäftsordnung des Bundestages, Wahl des Präsidiums: Praxis, Widersprüche und Vorschlag für mehr Demokratie
Von David Cohnen
Einleitung: Was ist die Geschäftsordnung?
Der Deutsche Bundestag regelt seine Arbeit durch die Geschäftsordnung (GOBT) - eine Art Betriebsanleitung, die das Parlament selbst beschließt. Sie bestimmt, wie Sitzungen ablaufen und wie das Präsidium, bestehend aus Bundestagspräsident und Vizepräsidenten, gewählt wird. Doch zeigt die Praxis seit 1949 wirklich die Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz, die viele Parteien für sich beanspruchen? Dieser Aufsatz erklärt die Regeln, blickt auf die Geschichte und schlägt eine gerechtere Lösung vor.
Die Geschäftsordnung erklärt: Wie wird das Präsidium gewählt?
In § 2 Absatz 1 der GOBT heißt es: Jede Fraktion des Bundestages hat einen Stellvertreter des Präsidenten im Präsidium. Das klingt eindeutig - jede Fraktion soll vertreten sein. Doch dann folgt die Einschränkung: "Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln den Präsidenten und seine Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält." Diese Mehrheitsbedingung konterkariert den Anspruch: Ohne Zustimmung der Mehrheit bleibt eine Fraktion außen vor. Der Bundestagspräsident leitet Sitzungen und repräsentiert das Parlament, die Vizepräsidenten unterstützen ihn. Die Regelung soll alle Kräfte einbinden - doch die Praxis zeigt Schwächen.
Die Praxis seit 1949: Tradition und Ausnahmen
Seit 1949 stellt die größte Fraktion fast immer den Bundestagspräsidenten - eine Tradition, aber keine Vorschrift. Beispiele sind Erich Köhler (CDU, 1949), Annemarie Renger (SPD, 1972) oder Norbert Lammert (CDU, 2005). Die stärkste Fraktion hat die meisten Stimmen und oft Unterstützung, was ihren Kandidaten durchbringt. Bei den Vizepräsidenten ist die Lage komplexer. Die Grünen hatten 1983 zunächst keinen Vertreter, weil sie als neue Kraft keine Mehrheit fanden, doch 1986 wurde Marieluise Beck-Oberdorf gewählt. Seit 2017 bleibt die AfD jedoch ausgeschlossen: Kein Kandidat wurde gewählt, da die Mehrheit - CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP, Linke - sie ablehnt. Die Geschäftsordnung wird hier nur halbherzig umgesetzt: Der Anspruch auf Vertretung gilt, aber nur, wenn die Mehrheit zustimmt.
Mehrheit kontra Anspruch: Ein Spiegel für die Parteien
Hier liegt der Widerspruch: Die Geschäftsordnung besagt, dass jede Fraktion einen Stellvertreter bekommt, doch die Mehrheit kann das blockieren - und tut es, etwa bei der AfD. Parteien wie CDU/CSU, SPD oder Grüne rühmen sich ihrer demokratischen Weltoffenheit und Toleranz. Doch wie tolerant ist es, eine gewählte Fraktion mit Millionen Stimmen auszuschließen? Die CDU/CSU sieht die AfD als Gefahr, weil sie in ihrem konservativen Revier fischt - ähnlich wie die SPD früher die Grünen und später die Linke als Bedrohung empfand. Die SPD schrumpft (2025: 16,4 %, Umfragen: 14 %), während die Linke (10 %) aufholt - ein Zeichen, dass Konkurrenz die Toleranzgrenze testet. Die CDU/CSU liegt bei 26 %, die AfD bei 24 % (Umfragen März 2025); ohne CSU wäre die AfD stärker als die CDU. Ist der Ausschluss also demokratisch oder nur ein Mittel, Gegner auszumanövrieren? Den Parteien wird hier ein Spiegel vorgehalten: Ihre Werte scheinen flexibel, wenn es um Macht geht.
Ein Vorschlag für mehr Demokratie
Um diesen Widerspruch aufzulösen, könnte die Geschäftsordnung wie folgt geändert werden:
Die größte Fraktion bestimmt den Bundestagspräsidenten: Die Tradition wird zur Regel und spiegelt den Wählerwillen wider - 2025 hätte die CDU/CSU (28,6 %) entschieden.
Jede Fraktion bestimmt einen Stellvertreter: SPD, Grüne, FDP, Linke und AfD könnten ihren Vertreter benennen, ohne von der Mehrheit blockiert zu werden.
Das wäre demokratisch, weil alle Gewählten eingebunden wären, weltoffen, weil keine politische Ansicht ausgeschlossen würde, und tolerant, weil auch unliebsame Fraktionen vertreten wären. Die Mehrheit könnte nicht mehr definieren, wer "tolerierbar" ist.
Herausforderungen und Einwände
Kritiker könnten die "wehrhafte Demokratie" anbringen: Extremistische Fraktionen im Präsidium seien ein Risiko. Doch solange sie gewählt sind, sollte der Wählerwille gelten. Ein großes Präsidium (bei vielen Fraktionen) wäre organisatorisch lösbar, etwa durch Rotation. Die Parteien müssten ihre eigene Toleranz beweisen.
Fazit: Ein Schritt zu echter Toleranz
Die Geschäftsordnung soll Demokratie sichern, doch die Praxis seit 1949 zeigt: Die Mehrheit entscheidet, wen sie toleriert - von den Grünen bis zur AfD. Ein neuer Ansatz, bei dem die größte Fraktion den Präsidenten bestimmt und jede Fraktion einen Stellvertreter stellt, würde diese Willkür beenden. Es wäre ein Zeichen, dass Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz mehr sind als Schlagworte - eine Prüfung, die die Parteien bestehen müssten.