Gleichheit ist unteilbar - Zur Unhaltbarkeit des Art. 12a GG im Lichte des Art. 3 GG und des Selbstbestimmungsgesetzes
Von David Cohnen
Die aktuellen Pläne des Bundesverteidigungsministeriums verschärfen den verfassungsrechtlichen Spannungsbogen zwischen Gleichheit und Ausnahme im Grundgesetz. Im Rahmen einer Gesetzesinitiative soll jede Person im wehrfähigen Alter einen digitalen Fragebogen ausfüllen, der ihre Motivation, körperliche Eignung und grundsätzliche Bereitschaft zur Landesverteidigung erfasst. Diese Befragung ist verpflichtend für Männer, während Frauen lediglich freiwillig teilnehmen.
Diese unterschiedliche Pflichtenlast wirft eine grundlegende Frage auf: Ist eine derart geschlechterselektive Regelung mit Art.?3 GG (Gleichheit) vereinbar, wenn zugleich Art.?12a GG historisch nur Männer zur Wehrpflicht heranzieht? Die folgende Analyse untersucht, wie Art.?3 GG, Art.?12a GG und das Selbstbestimmungsgesetz zusammenwirken und welche verfassungsrechtlichen Schlüsse daraus zu ziehen sind.
- Einleitung
Die deutsche Verfassung garantiert in Art. 3 GG umfassend die Gleichheit der Geschlechter. Zugleich enthält Art. 12a GG eine Ausnahmebestimmung, die Männer zur Wehrpflicht verpflichtet und Frauen davon befreit. Diese Ausnahme war von Beginn an ein Fremdkörper im System der Grundrechte. Während die Gleichheitsgarantie seit 1949 konsequent ausgebaut und durch Rechtsprechung wie Gesetzgebung fortentwickelt wurde, verharrt Art. 12a GG in einer überkommenen Rolle.
Mit dem Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes verschärft sich dieser Widerspruch erheblich: Wenn die amtliche Geschlechtszugehörigkeit frei gewählt werden kann, verliert eine ausschließlich an "Männer" anknüpfende Pflicht jede normative Konsistenz und praktische Vollziehbarkeit. Die Frage lautet daher: Kann Art. 12a GG unter den heutigen Bedingungen überhaupt noch Bestand haben?
- Normative Ausgangslage
2.1 Art. 3 GG
- Abs. 2 S. 1: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
- Abs. 3 S. 1: "Niemand darf wegen . seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden."
Diese Normen statuieren eine umfassende Gleichheitsgarantie. Sie verbieten jede staatliche Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund des Geschlechts, sowohl in Bezug auf Rechte als auch auf Pflichten.
2.2 Art. 12a GG
- Abs. 1: "Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften . verpflichtet werden."
- Abs. 4: "Frauen dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten ."
Damit etabliert Art. 12a GG eine geschlechtsbezogene Differenzierung: Männer können zum Wehrdienst verpflichtet werden, Frauen sind hiervon ausgenommen.
- Historische Genese und ursprünglicher Kontext
Die Einführung von Art. 12a GG ist im historischen Kontext zu sehen: Über Jahrhunderte hinweg war es politisch und gesellschaftlich unvorstellbar, Frauen zum Waffendienst zu verpflichten. Der Wehrdienst galt als genuin männliche Aufgabe.
Rechtlich betrachtet stand diese Differenzierung jedoch bereits 1949 im Spannungsverhältnis zu Art. 3 GG. Die Verfassungsgeber entschieden sich bewusst für einen Bruch der eigenen Gleichheitslogik, um ein historisch empfundenes Tabu abzusichern.
- Systematischer Widerspruch in der Gegenwart
4.1 Führungsverantwortung ohne Pflicht
Heute können Frauen in allen Funktionen der Bundeswehr dienen, bis hin zu höchsten Führungspositionen. Sie können Befehle erteilen, die Männer in lebensgefährliche Einsätze führen. Zugleich können sie nicht verpflichtet werden, denselben Dienst selbst zu leisten.
Dies bedeutet: Frauen besitzen gleichwertige Rechte, sind aber von zentralen Pflichten befreit. Eine solche Asymmetrie widerspricht dem Prinzip der Gleichheit in Rechten und Pflichten.
4.2 Rosinenpickerei in der Gleichberechtigung
Während Gleichstellung in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen gefordert und durchgesetzt wird, endet sie dort, wo mit erheblichen Belastungen und Risiken zu rechnen ist. Gleichberechtigung wird damit selektiv beansprucht - Vorteile ja, Pflichten nein. Dies ist nicht nur gesellschaftlich problematisch, sondern verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.
- Verfassungsrechtliche Analyse
5.1 Art. 12a GG als lex specialis?
Man könnte argumentieren, Art. 12a GG sei eine spezielle Ausnahme gegenüber Art. 3 GG. Doch selbst dann gilt der Grundsatz: Ausnahmevorschriften sind eng auszulegen.
Die Ausnahme "Frauen dürfen nicht gegen ihren Willen zum Waffendienst verpflichtet werden" rechtfertigt nicht die vollständige Befreiung von jeglicher Form der Pflicht, insbesondere nicht von vorbereitenden Maßnahmen wie Erfassung, Musterung oder Fragebogenpflicht.
5.2 Gleichheitsprüfung nach Art. 3 GG
Die ausschließlich an Männer gerichtete Pflicht ist eine unmittelbare Ungleichbehandlung.
- Legitimer Zweck: Wehrgerechtigkeit, Verteidigungsfähigkeit.
- Geeignetheit: Auch durch eine geschlechtsneutrale Pflicht erreichbar.
- Erforderlichkeit: Ausschließliche Belastung von Männern ist nicht erforderlich, da gleiche Effektivität durch Einbeziehung aller Geschlechter erzielt werden kann.
- Angemessenheit: Wehrgerechtigkeit verlangt eine gleichmäßige Lastenverteilung. Die alleinige Belastung der Männer ist nicht verhältnismäßig.
Fazit: Der Gleichheitstest wird nicht bestanden.
- Neue Dimension durch das Selbstbestimmungsgesetz
Das Selbstbestimmungsgesetz erweitert den Widerspruch zu einem praktischen Vollzugsproblem:
Jeder Mensch kann den amtlichen Geschlechtseintrag ändern.
- Damit verliert der Staat die Möglichkeit, eindeutig zwischen "Mann" und "Frau" für wehrpflichtrechtliche Zwecke zu unterscheiden.
- Personen könnten sich durch Änderung ihres Eintrags einer ausschließlich männlich adressierten Pflicht entziehen.
Die Wehrpflicht für "Männer" ist damit nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch faktisch nicht mehr durchsetzbar.
- Praktische Übereinstimmung
Das Gebot praktischer Übereinstimmung verlangt, kollidierende Verfassungsnormen so auszulegen, dass beide möglichst weitgehend zur Geltung kommen.
- Art. 3 GG fordert die Gleichbehandlung aller Menschen.
- Art. 12a GG schützt historisch das Verbot der zwangsweisen Heranziehung von Frauen zum Waffendienst.
Praktische Übereinstimmung bedeutet - für den Fall, dass der Waffendienst von Frauen weiterhin als unzulässig betrachtet wird -, dass Frauen zwar nicht zum aktiven Dienst an der Waffe gezwungen werden dürfen, wohl aber in allen vorbereitenden Pflichten gleichbehandelt werden müssen. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird zudem deutlich, dass eine Anknüpfung ausschließlich an "Männer" unpraktikabel ist.
- Konsequenzen
Es gibt nur zwei konsistente Lösungen:
- Abschaffung von Art. 12a GG und vollständige Aufhebung staatlicher Zwangsdienste.
- Neufassung von Art. 12a GG als geschlechtsneutrale Regelung, die alle Staatsbürger gleichermaßen erfasst und lediglich unter engen Voraussetzungen einen Schutz vor zwangsweisem Waffendienst vorsieht. Alles andere widerspricht sowohl der inneren Logik des Grundgesetzes als auch seiner praktischen Anwendbarkeit im Lichte des Selbstbestimmungsgesetzes.
- Schlussfolgerung
Art. 12a GG ist ein historisches Relikt, das sich mit der Gegenwart nicht mehr vereinbaren lässt. Das Grundgesetz darf nicht selektiv gelesen werden. Wer Gleichheit ernst nimmt, muss sie in Rechten und Pflichten anerkennen.
Eine Wehrpflicht, die ausschließlich Männer erfasst, während Frauen in gleicher Weise über Rechte, Chancen und Macht in der Bundeswehr verfügen, ist ein Anachronismus. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird sie zudem vollzugsunfähig.
Die Politik steht vor einer klaren Entscheidung: Entweder wird Art. 12a GG ersatzlos gestrichen - oder er wird modernisiert und geschlechtsneutral gefasst. Alles andere bedeutet die Fortführung einer Ungleichheit, die dem Geist und Buchstaben des Grundgesetzes widerspricht.
Quellenverzeichnis
Verfassungsrechtliche Grundlagen
- Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere Art. 3 und Art. 12a.
- Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (Selbstbestimmungsgesetz - SBGG), BGBl. 2023 I Nr. XX.
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
- BVerfGE 48, 127 - Wehrpflicht I: Grundsatz der Wehrgerechtigkeit.
- BVerfGE 57, 361 - Wehrpflicht II: Zum Umfang der Belastungsgleichheit.
- BVerfGE 77, 1 - Soldatinnen-Urteil: Verbot des Ausschlusses von Frauen vom Dienst mit der Waffe.
- BVerfGE 85, 191 - Wehrdienstverweigerung: Zum Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung.
- BVerfGE 88, 203 - Wehrgerechtigkeit im Wandel.
- BVerfGE 140, 317 - Drittes Geschlecht: Anerkennung des positiven Geschlechtseintrags.
Weitere Gesetze / Normtexte
- Wehrpflichtgesetz (WPflG).
- Wehrstrafgesetz (WStG).
- Soldatengesetz (SG).
Leseempfehlung (Sekundärliteratur)
Kommentare zum Grundgesetz
- Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 3, Art. 12a GG.
- Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz-Kommentar.
- Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz.
Monographien & Aufsätze
- Udo Di Fabio, Wehrgerechtigkeit und Wehrpflicht - Gleichheit in Lasten und Chancen, in: Juristenzeitung (JZ), 1990, S. 945 ff.
- Christian Calliess, Gleichheit und Differenz im Grundgesetz, Tübingen 1999.
- Andreas Paulus, Das Grundgesetz zwischen Gleichheit und Sicherheitspflichten, NVwZ 2015, S. 777 ff.
- Christine Hohmann-Dennhardt, Frauen und Grundgesetz - Von der Benachteiligung zur Gleichstellung, in: NJW 2001, S. 1981 ff.
- Dieter Wiefelspütz, Wehrpflicht, Wehrgerechtigkeit und Bundeswehrreform, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2002, S. 557 ff.
Weiterführend / Zeitdiagnostisch
- Ulrich Battis, Wehrpflicht in der modernen Gesellschaft - ein Anachronismus?, DVBl 2010, S. 1459 ff.
- Isabell Götze, Geschlecht und Militär - Rechtliche Entwicklungen seit dem Soldatinnen-Urteil, in: Kritische Justiz 2018, S. 123 ff.
- Friederike Wapler, Selbstbestimmung und Geschlechtseintrag - verfassungsrechtliche Grundlagen, in: Der Staat 2022, S. 453 ff.