Recht und Gesetz gelten für alle gleichermaßen
Von David Cohnen
Pfarrer Franz Meurer, oft als "Don Camillo von Vingst" bezeichnet, wird in einem Interview als tatkräftiger Seelsorger dargestellt, der weit über die rein kirchliche Arbeit hinaus in die Gesellschaft hineinwirkt. Er engagiert sich für Obdachlose, setzt sich für "Housing First" ein und betont eine Gerechtigkeit, die nicht nur Chancen ermöglicht, sondern Menschen tatsächlich befähigt, ihre Möglichkeiten zu entfalten. Seine Sprache ist anschaulich, seine Haltung leidenschaftlich, und er verbindet theologische Begriffe mit konkreten politischen Forderungen.
Problematisch wird sein Auftreten jedoch in dem Moment, in dem er sein persönliches Verständnis von Demokratie über die bestehenden Gesetze stellt. So berichtet er offen, AfD-Plakate abgehängt zu haben. Er akzeptiert zwar die Strafe, die ihm dafür auferlegt wurde, hält sein Handeln aber nach wie vor für richtig und begründet es mit moralischen Erwägungen. Damit offenbart sich ein selektives Demokratieverständnis: Gesetze gelten nur so lange, wie sie mit der eigenen Moral in Einklang stehen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass diese Aussagen nicht in einer privaten Randnotiz, sondern im katholischen Zentralorgan veröffentlicht wurden (katholisch.de).
Hinzu kommt, dass Meurer regelmäßig im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auftritt, insbesondere in den morgendlichen kirchlichen Kurzandachten "Kirche in WDR 4" kurz vor den 9:00-Uhr-Nachrichten. Damit übernimmt auch der Rundfunk Verantwortung für die Verbreitung seiner Haltung: Seine politischen und moralischen Bewertungen erreichen ein Millionenpublikum und haben dadurch weitreichende Wirkung. In diesem Zusammenhang erinnert ein Satz, den mir eine junge Frau sagte: "Was brauchen wir Moral?" Vielleicht sollte die Frage lauten: Brauchen wir wirklich eine Moral, die Gesetze unterläuft, anstatt sie zu stützen?
Genau hierin liegt ein gravierender Widerspruch. Demokratie bedeutet nicht, dass man die eigene moralische Haltung über den Rechtsstaat stellen darf. Der Rechtsstaat schützt die Demokratie gerade dadurch, dass er für alle gleichermaßen gilt - auch für Parteien, die einem nicht gefallen. Wer meint, Gesetze nach eigenem Gutdünken missachten zu dürfen, gefährdet letztlich die demokratische Ordnung, die er doch zu verteidigen vorgibt.
Besonders kritisch ist Meurers Rolle als katholischer Priester. Seine primäre Aufgabe sollte Seelsorge sein. Doch indem er offen gegen eine Partei vorgeht, die nach aktuellen Umfragen rund ein Viertel der Bevölkerung unterstützt, stellt er sich nicht nur gegen eine politische Richtung, sondern auch gegen viele seiner eigenen Gemeindemitglieder. Besonders schwer wiegt, dass er damit auch gegen seine eigenen Glaubensbrüder agiert: fromme katholische Christen, die ehemals CDU-Mitglieder waren und sich inzwischen aus unterschiedlichen Gründen der AfD zugewandt haben. Wer als Priester diesen Menschen nicht mit Seelsorge und Respekt begegnet, sondern sie pauschal politisch bekämpft, gefährdet die Einheit der Kirche und entfremdet sich von einem erheblichen Teil der Gläubigen.
Meurers Haltung ist kein Einzelfall. Auch Parteien wie die Grünen, die SPD und die Linkspartei argumentieren häufig stark moralisch und neigen dazu, das Grundgesetz nach eigenem Ermessen auszulegen. Dasselbe Muster zeigt sich in anderen Zusammenhängen: Artikel 1 GG legt fest, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Gleichzeitig sieht Artikel 12a GG eine Wehrpflicht nur für Männer vor. Auf Nachfrage im Zusammenhang mit einem aktuellen Gesetzentwurf erklärte ein Verteidigungsminister sinngemäß, es habe die Zeit nicht gereicht, sich um diese Passage des Grundgesetzes zu kümmern. Auch ein führender Kommunalpolitiker äußerte einmal: "Für mich kommt die Menschlichkeit zuerst" - ein klares Beispiel, wie moralische Vorstellungen gelegentlich über die rechtliche Verbindlichkeit des Grundgesetzes gestellt werden.
Darüber hinaus zeigen islamistische Gruppierungen wie "Muslim Interaktiv", dass diese Problematik nicht auf einzelne Kirchenvertreter oder Parteien beschränkt ist. Am 27. April 2024 demonstrierten über 1.000 Personen im Hamburger Stadtteil St. Georg unter dem Motto "Kalifat ist die Lösung". Die Gruppe fordert die Einführung der Scharia und die Errichtung eines Kalifats, steht laut Verfassungsschutz in ideologischer Nähe zur verbotenen Organisation Hizb ut-Tahrir und wird als "gesichert extremistisch" eingestuft (Bundesamt für Verfassungsschutz, DIE ZEIT).
Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Problem universell ist: Immer dann, wenn moralische oder religiöse Vorstellungen über das Gesetz gestellt werden, wird die Demokratie gefährdet. Der Rechtsstaat lebt davon, dass Gesetze für alle gleichermaßen gelten - unabhängig von persönlicher Moral oder religiöser Überzeugung.
Es wird deutlich: Das Grundgesetz, das oberste Gesetz in Deutschland, wird von Politikern wie auch von kirchlichen Würdenträgern oft nicht als verbindlicher Rahmen verstanden, sondern als Spielraum für moralische Auslegungen. Wer Moral oder Menschlichkeit über das Gesetz stellt, untergräbt das Fundament der Demokratie. Gerade die Demokratie lebt davon, dass Recht und Gesetz für alle gleichermaßen gelten - unabhängig von politischer Richtung oder moralischer Überzeugung. Geistliche wie Meurer oder Politiker, die moralische Eifer über Recht stellen, liefern ungewollt eine Steilvorlage für alle, die Gesetz und Ordnung nur dann anerkennen, wenn es ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Am Ende gefährdet genau dieses Verhalten das, was es zu schützen vorgibt: Rechtsstaat, Gleichheit vor dem Gesetz und demokratische Ordnung.