Im Chipkrieg entscheidet sich die Weltordnung
Von ELENA FRITZ
Wenn politische Macht sich heute neu formiert, dann nicht durch Diplomatie oder Panzerverlegungen, sondern durch Nanometer. Es sind Mikrochips – kaum sichtbar, aber strategisch elementar –, die das 21. Jahrhundert strukturieren. Wer sie fertigt, bestimmt über Rüstung und KI, über Wertschöpfung und Weltordnung. Und wer von ihrer Produktion abhängig ist, kann sich auf internationale Verträge berufen – oder auf das Prinzip Hoffnung.
Die Vereinigten Staaten versuchen sich aus dieser Abhängigkeit zu lösen. Und das mit brachialer Konsequenz. Was sie unter dem Begriff „Reindustrialisierung“ vorantreiben, ist keine bloße Industriepolitik, sondern ein geostrategisches Programm, das an die großen Mobilmachungen des Kalten Krieges erinnert – nur diskreter, aber nicht minder ambitioniert. Dabei geht es nicht nur um Versorgungssicherheit, sondern um globale Führungsansprüche. Die Kontrolle über die Schlüsseltechnologie Halbleiter ist in Washington zur neuen Achse der Weltordnung geworden. In einer Welt, in der technologische Überlegenheit Rüstung, Nachrichtendienste, Energieversorgung und selbst politische Kommunikation bestimmt, wird der Zugriff auf Halbleiter zur geopolitischen
Nagelprobe.
Mikrochips als imperiale Achse
Dass ausgerechnet Taiwan – ein Inselstaat in unmittelbarer Reichweite chinesischer
Raketensysteme – den Großteil der weltweiten Hochleistungschips liefert, ist aus Sicht Washingtons ein Sicherheitsrisiko ersten Ranges. Rund 70 Prozent der modernsten Logikchips stammen aus taiwanischer Fertigung, insbesondere von TSMC. In Friedenszeiten effizient. In Krisenzeiten fatal.
Die Antwort der USA lautet: Verlagerung, Kontrolle, Autarkie. Unter Biden floss das Geld: über 50 Milliarden Dollar an direkten Subventionen, flankiert durch Steuererleichterungen und Gesetzespakete. Trump hingegen greift zum Zollhebel – mit bis zu 100 Prozent auf taiwanische Chipimporte. Zuckerbrot und Peitsche, aber mit demselben Ziel: nationale Rückbindung einer globalisierten Technologie.
Und es wirkt. TSMC baut in Arizona. Intel verlagert nach Ohio. Samsung expandiert in Texas. Über 450 Milliarden Dollar an Investitionen sind angestoßen worden, Dutzende Großprojekte sind im Bau. Die Vereinigten Staaten tun, was Europa nur verspricht: Sie nehmen geopolitische Realität zur Kenntnis und ziehen industriepolitische Konsequenzen.
Der Preis der Entkopplung
Doch das amerikanische Reindustrialisierungsprogramm kommt nicht ohne
Nebengeräusche. Es ist teuer, komplex – und strukturell fragil. Die Produktionskosten für Halbleiterfabriken in den USA liegen im Schnitt um 30 bis 50 Prozent höher als in den ostasiatischen Produktionsländern wie Taiwan oder Südkorea. Grund sind unter anderem strengere Auflagen, höhere Lohnkosten und fehlende industrielle Routine in der Hochtechnologiefertigung.
Hinzu kommt der akute Fachkräftemangel: In fast allen Regionen fehlen Ingenieure,
Techniker und spezialisierte Produktionskräfte. Studien gehen davon aus, dass den
Vereinigten Staaten bis zum Jahr 2030 etwa 90.000 qualifizierte Fachkräfte in der
Halbleiterindustrie fehlen werden – ein Defizit, das sich nicht kurzfristig beheben lässt.
Auch die Infrastruktur erweist sich als Engpassfaktor. Die meisten Präzisionsmaschinen stammen nach wie vor aus den Niederlanden, insbesondere von ASML. Wichtige Materialien wie hochreines Silizium oder spezielle Chemikalien kommen aus Japan. Und selbst die finalen Test- und Verpackungsschritte, die für die Serienreife notwendig sind, finden überwiegend in Asien statt. Die ambitionierten US-Pläne stoßen damit auf globale Abhängigkeiten, die sich nicht mit einem Federstrich auflösen lassen.
Was entsteht, ist ein industrielles Mosaik: national gedacht, aber global abhängig. Die Vorstellung, man könne eine globale Schlüsselindustrie wie ein heimisches
Infrastrukturprojekt aufbauen, ist illusionär. Doch die USA nehmen diese Illusion ernst – mit einem entschlossenen Versuch, die Realität nach ihren Interessen zu formen.
CHIP4 – ein geopolitisches Versprechen ohne Substanz
Zur geostrategischen Flankierung wurde das sogenannte „CHIP4“-Format ins Leben
gerufen – ein Bündnis mit Japan, Südkorea und Taiwan. Es sollte Lieferketten stabilisieren, Standards koordinieren, Investitionen lenken. Doch was auf dem Papier wie eine Allianz klingt, bleibt in der Praxis ein loses Konsultationsforum. Die Beteiligten zögern – nicht zuletzt, weil sie sich ungern in den Dienst einer US-dominierten Industrieordnung stellen lassen.
Hinzu kommt: Die asiatischen Partnerstaaten haben eigene Interessen. Sie wollen nicht Spielball amerikanischer oder chinesischer Industriepolitik werden, sondern selbst souveräne Akteure bleiben. Die USA begegnen dieser Ambivalenz mit dem klassischen Mittel imperialer Strukturpolitik: Druck durch Zölle, Lockung durch Marktversprechen. Doch strategisches Vertrauen lässt sich nicht herbeizwingen. Gleichzeitig wächst der Druck aus China: Exportverbote für kritische Rohstoffe, eigene Investitionen in Sieben- und Fünf-nm-Technologie, strategische Übernahmen entlang der Lieferkette. Peking reagiert nicht nur, es agiert – systematisch, mit langem Atem.
Europas strategisches Schlafwandeln – und wie wir das ändern
Europa schweigt nicht – es raunt. Zwischen Förderpaketen, Expertengipfeln und
Kommissionspapieren scheint man sich mit Regulierungsliteratur zu begnügen. Doch was wir brauchen, ist expeditionärer Geist – Strategie, Tempo, Entschlusskraft. Der European Chips Act von 2022 sollte Europa zu einem globalen Halbleiterakteur machen. Doch im Sommer 2025 wirkt er eher wie ein verspäteter Reflex auf US- und China-Kraftakte. Während Washington baut, subventioniert und sogar mit Zollbedrohungen agiert, drückt Brüssel auf Umweltstandards, Genehmigungsfristen und Beihilfeleitlinien. Dieses Vorgehen kostet Boden.
Es fehlt nicht an Geld, sondern an geistiger Mobilmachung. Frankreich hat den Anspruch formuliert, Deutschland wird blockiert durch föderalen Genehmigungsdschungel, Italien signalisiert Bereitschaft zur Mitwirkung – doch ein gemeinsamer europäischer Kurs fehlt. Nur wenn die industrielle Klammer stimmt, kann Europa ein Gegengewicht bilden. Und konkret: Europas technisches Rückgrat steht bereit. ASML in den Niederlanden kontrolliert die ultraviolette Lithographie – ohne sie produzieren andere nur halbe Chips. Infineon, STMicroelectronics, Bosch sind international wettbewerbsfähig. Aber die entscheidende Lücke liegt bei der Spitzenfertigung – der sogenannten Sub-5-nm-Technologie, also
Schaltstrukturen unter fünf Milliardstel Metern. Ohne sie fehlen uns Chips für modernste KI, Hochleistungsrechner, autonome Waffensysteme. Europa ist hier außen vor.
Der zu erwartende Fachkräftemangel erfordert den Aufbau spezialisierter Ausbildungszentren, die Erweiterung dualer Studiengänge sowie Programme zur Rückgewinnung europäischer Talente aus dem Ausland. Bis 2030 müssen rund 90.000 qualifizierte Arbeitskräfte gewonnen werden. Nicht zuletzt sollte Europa sich als strategischer Co-Investor bei neuen Fertigungsanlagen engagieren. Minderheitsbeteiligungen an Schlüsselprojekten stärken nicht nur das Mitspracherecht, sondern sichern auch langfristige Interessen in der Wertschöpfungskette. Europa steht heute an einem geopolitischen Scheideweg: Wird es digital-souverän – oder bleibt es Spielball im Wettkampf asiatisch-amerikanischer Giganten? Die Uhr tickt – und es ist an uns, den Takt anzugeben.
Fazit: Die geopolitische Grammatik der Technik
Es geht längst nicht mehr um Märkte, sondern um Macht. Mikrochips sind keine
Industrieprodukte unter vielen. Sie sind – wie Öl im 20. Jahrhundert – ein Hebel
geopolitischer Gestaltung. Die USA haben das erkannt. Ob sie erfolgreich sein werden, ist offen. Aber dass sie es mit Ernst betreiben, ist unübersehbar. Europa täte gut daran, den Kampf um die Halbleiter nicht als fernen Wirtschaftskonflikt zu betrachten, sondern als Teil einer neuen Weltordnung. In dieser Ordnung zählt nicht, wer diskutiert, sondern wer produziert. Wer produziert, definiert die Regeln.
(pi-news.net)
