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Die Macht der Masse

Der moderne Mensch verfällt immer mehr der Gleichgültigkeit

Von Gustave Le Bon

In früheren, gar nicht so weit zurückliegenden Zeiten, hatten die Meinungen noch eine allgemeine Richtung. Sie wurden von der Annahme einiger Grundüberzeugungen abgeleitet. Allein aus der Tatsache, daß man Monarchist war, ergeben sich notwendigerweise auf den Gebieten der Geschichte und der Wissenschaft bestimmte, scharfumgrenzte Ansichten, während der Republikaner ganz entgegengesetzte für sich in Anspruch nahm.

Ein Monarchist wußte genau, daß der Mensch nicht vom Affen abstammt, und ein Republikaner wußte nicht weniger genau, daß er von ihm abstammt. Der Monarchist mußte mit Abscheu, der Republikaner begeistert von der Revolution sprechen. Gewisse Namen, wie Robespierre, Marat, mußten mit andächtiger Miene, andre wieder, wie Cäsar, Augustus, Napoleon, nur unter Schmähungen ausgesprochen werden. Bis zu unserer Sorbonne herauf herrschte diese kindliche Geschichtsauffassung.

Heute verliert jede Meinung durch Erörterung und Zergliederung ihren Nimbus, ihre Stützpunkte werden schnell unsicher, und es bleiben nur wenige Ideen übrig, die uns zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen könnten. Der moderne Mensch verfällt immer mehr der Gleichgültigkeit. Wir wollen diese allgemeine Erschöpfung der Anschauungen nicht allzusehr bedauern. Daß sie eine Entartungserscheinung im Völkerleben ist, läßt sich nicht bestreiten.

Wohl haben die Seher, Apostel, Führer, mit einem Wort die Überzeugten, eine ganz andere Gewalt als die Verneiner, Kritiker und Gleichgültigen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß eine einzige Anschauung, die genügend Nimbus gewänne, um sich durchzusetzen, mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt erlangen würde, daß sich alsbald alle vor ihr beugen müßten, und die Zeit der freien Meinungsäußerung wäre dann für lange Zeit vorbei.

Zeitweilig sind die Massen friedfertige Herren, wie es gelegentlich Heliogabal und Tiberius auch waren, aber sie haben auch wilde Launen. Ist eine Kultur reif, ihnen in die Hände zu fallen, so ist sie zu vielen Zufällen ausgesetzt, als daß sie noch lange Zeit überdauern könnte. Wenn irgend etwas die Stunde des Niedergangs aufhalten kann, so ist es nur die außerordentliche Veränderlichkeit der Meinungen und die wachsende Gleichgültigkeit der Massen gegen alle allgemeinen Grundanschauungen.
(Aus Gustave Le Bon, "Psychologie der Massen" - 1895)

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