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Luftraum, Recht und Realität

Eine Analyse jenseits der Hysterie

Von ELENA FRITZ

In den letzten Wochen häufen sich Meldungen über angebliche russische Zwischenfälle im europäischen Luftraum. Mal ist von Drohnen die Rede, die in Polen niedergegangen sein sollen, mal von russischen Kampfjets, die den estnischen Luftraum verletzt hätten, und jüngst sogar von geheimnisvollen Drohnen über Dänemark, die gleich mehrere Flughäfen lahmlegten. In den Schlagzeilen werden diese Vorfälle zu einem Bedrohungsszenario verdichtet, das Russland als unberechenbaren Aggressor darstellt und den Ruf nach Abschüssen und militärischer Härte befeuert. Doch ein Blick auf die Fakten, das Völkerrecht und die militärische Praxis zeigt: Vieles davon hält einer nüchternen Prüfung nicht stand.

Am Beispiel Polen wird das deutlich: In der Nacht zum 10. September meldete Warschau den Einflug von 19 Drohnen. Belarus erklärte kurz darauf, mehrere Flugkörper bereits über eigenem Territorium abgefangen und Polen rechtzeitig gewarnt zu haben. Ein Teil der Drohnen stürzte nach Erreichen der Reichweitengrenze unkontrolliert ab, andere waren offenbar Attrappen. Keines der Geräte erreichte ein konkretes Ziel. Der einzige dokumentierte Schaden – ein beschädigtes Haus – ging nach polnischer Bestätigung höchstwahrscheinlich nicht auf eine russische Drohne, sondern auf die Abfangrakete einer polnischen F-16 zurück. Von einem gezielten Angriff Russlands kann also keine Rede sein.

Noch nebulöser ist der Fall Dänemark. Mehrere Flughäfen wurden vorübergehend geschlossen, weil unbekannte Drohnen gesichtet worden sein sollen. Gefunden wurde nichts. Herkunft, Zahl und Typ sind ungeklärt. Trotzdem fiel in den Medien sofort das Schlagwort „Russland“. Es ist ein klassisches Beispiel dafür, wie aus einer nicht belegten Beobachtung eine Sensation konstruiert wird. Dass die gleiche Nachrichtenlage eine andere, weitaus relevantere Meldung – die Öffnung der polnisch-belarussischen Grenze für den Warenverkehr – fast völlig verdrängte, zeigt, wie selektiv die mediale Wahrnehmung funktioniert.

Die Regeln des Air Policing sind eindeutig
Etwas konkreter ist die estnische Meldung vom 19. September. Demnach hätten drei MIG-31 für rund zwölf Minuten den estnischen Luftraum nahe der Insel Vaindloo verletzt. Russland bestreitet dies und verweist darauf, die Maschinen hätten sich über internationalem Gebiet im finnischen Meerbusen bewegt. Fest steht: Die Flugzeuge flogen parallel zur Küstenlinie, nicht in Richtung estnischen Territoriums. Selbst die estnische Regierung sprach nicht von einer Angriffsabsicht. In einem Korridor, in dem die See- und Luftgrenzen teils umstritten sind, ist die Sachlage alles andere als eindeutig.

Juristisch ist der Rahmen klar. Das Gewaltverbot der UN-Charta verbietet den Einsatz militärischer Gewalt, solange kein bewaffneter Angriff vorliegt oder eine unmittelbare Angriffsabsicht nachweisbar ist. Ein Abschuss von Drohnen ohne Nutzlast oder von Flugzeugen, die internationale Korridore nutzen, wäre völkerrechtswidrig. Auch das deutsche Strafrecht kennt Tatbestände, die eine öffentliche Aufforderung zu völkerrechtswidrigen Handlungen erfassen. Die Regeln des Air Policing sind eindeutig: identifizieren, begleiten, dokumentieren – nicht eskalieren.

Die größere Frage lautet daher nicht, ob Russland Europa mit Drohnen und Kampfjets bedroht. Sie lautet: Warum wird jeder dieser Vorfälle politisch und medial in eine Dramatik hochgezogen, die mit den Fakten wenig zu tun hat? Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Europa kaum noch über funktionierende Konsultationsmechanismen verfügt. In den 1990er-Jahren gab es direkte Gesprächskanäle zwischen NATO und Russland, regelmäßige Treffen der Generalstabschefs, sogar Krisentelefone. Konflikte konnten auf technischer Ebene eingehegt werden.

Fehlende Transparenz und Berechenbarkeit
Heute fehlen diese Instrumente – und die Lücke füllen Schlagzeilen und politische Symbolik. Hinzu kommt ein tiefer liegendes Problem. Mit der Kündigung von Rüstungskontrollverträgen wie ABM, INF und Open Skies sind die Grundlagen für Transparenz und Berechenbarkeit weggebrochen. Wo es keine verlässlichen Regeln gibt, blühen Unsicherheit und Misstrauen. In diesem Klima wird jeder Zwischenfall zur Projektionsfläche für Bedrohungsszenarien.

Das Ganze fällt in eine Phase massiver Aufrüstung. Deutschland plant bis 2026 Verteidigungsausgaben von über 108 Milliarden Euro – ein historischer Rekord. Begründet wird dies mit Ostflankenschutz und Abschreckung Russlands. Doch die ständige Überhöhung kleiner Zwischenfälle schafft erst die argumentative Grundlage für diese Politik. Der „russische Faktor“ wird zur Legitimation einer neuen militärischen Normalität in Europa.

Dabei gäbe es auch andere Signale. Russland hat angeboten, die Obergrenzen des New-START-Vertrags freiwillig noch ein Jahr einzuhalten. Das ist kein politischer Freundschaftsdienst, sondern ein nüchternes Stabilitätsangebot. Es eröffnet ein Zeitfenster, um neue Rüstungskontrollverhandlungen aufzunehmen – auch mit Blick auf China. Wird dieses Fenster nicht genutzt, droht ein neuer Rüstungswettlauf, dessen Risiken vor allem Europa tragen müsste.

Fazit
Die nüchterne Bilanz lautet: Die Drohnen über Polen waren kein Angriff, die Drohnen in Dänemark bleiben unbelegt, die MIG-Flüge über dem finnischen Meerbusen waren keine Aggression. Eskalationsrhetorik steht in keinem Verhältnis zur Faktenlage. Wer hier Abschüsse fordert, bricht nicht nur internationales Recht, er riskiert eine Eigendynamik, deren Folgen niemand kontrollieren kann.

Sicherheitspolitik ist nicht das Geschäft schneller Schlagzeilen, sondern der nüchternen Abwägung. Sie braucht Fakten, Konsultationen, Rechtssicherheit und den klaren Willen zur Deeskalation. Frieden ist in diesem Kontext keine Option unter vielen. Er ist die Voraussetzung für jede tragfähige Sicherheitsordnung in Europa.
(pi-news.net)

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