Keine harmonische Einheit, sondern Konkurrenz, Reibung durch Vielfalt
Von David Cohnen
Das Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen und Religionsgemeinschaften ist seit jeher ein gesellschaftliches Problem. Während der gesellschaftliche Diskurs häufig von einem Idealbild harmonischer Vielfalt geprägt ist, zeigt die Realität vielerorts ein anderes Bild: nicht ein Miteinander, sondern ein Nebeneinander - und in manchen Fällen sogar ein Gegeneinander. Menschen leben räumlich nahe beieinander, ohne kulturell oder sozial wirklich in Kontakt zu treten. Dieses Aneinandervorbeileben erzeugt Spannungen, Missverständnisse und verhindert gesellschaftliche Integration.
Eine der größten religiösen Spannungen in Mitteleuropa - genauer gesagt auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands - entstand im 16.?Jahrhundert, als Martin Luther durch die Reformation den Protestantismus begründete. Was zunächst als innerkirchliche Erneuerungsbewegung begann, entwickelte sich rasch zu einem tiefgreifenden Konflikt, der Gesellschaft, Politik und Territorien gleichermaßen erfasste.
Über Jahrhunderte standen sich Katholiken und Protestanten unversöhnlich gegenüber; das gemeinsame Fundament des christlichen Glaubens reichte nicht aus, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten. Es entstand ein Nebeneinander zweier Glaubensrichtungen, das sich immer stärker zu einem Gegeneinander entwickelte und schließlich in offene Feindseligkeiten und kriegerische Auseinandersetzungen mündete.
Bereits 1555 schuf der Augsburger Religionsfrieden eine rechtliche Grundlage für das Zusammenleben der Konfessionen. Er regelte die Koexistenz von Katholiken und Protestanten innerhalb des Reichs und sicherte jedem Reichsstand das Recht, die eigene Konfession durchzusetzen. Dennoch blieb die soziale und kulturelle Distanz bestehen: Katholiken und Protestanten lebten oft abgeschottet nebeneinander, und interkonfessionelle Kontakte waren stark eingeschränkt. Mischehen stießen auf erheblichen Widerstand, da Familien und kirchliche Institutionen darauf bestanden, dass Kinder in der Konfession eines Partners erzogen werden.
Der Höhepunkt dieser Spannungen war der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der vornehmlich auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches stattfand. Ausgelöst durch konfessionelle Gegensätze begann er als Religionskrieg, entwickelte sich jedoch schnell zu einem komplexen Konflikt mit politisch-machtstrategischen Interessen: Fürsten nutzten die Religion als vorgeschobenes Argument, um territoriale Zugewinne, dynastische Vorteile oder größere Unabhängigkeit zu erlangen.
Der Krieg weitete sich über die Reichsgrenzen hinaus zu einem europäischen Stellvertreterkrieg aus: Dänemark-Norwegen, Schweden, Frankreich und Spanien griffen aus unterschiedlichen Gründen ein, und zahlreiche deutsche Fürstentümer wurden auf beiden Seiten in den Konflikt gezogen.
Die Folgen waren verheerend: Katholiken und Protestanten lebten nicht nebeneinander, sondern wurden zu erbitterten Feinden, die sich über Jahrzehnte bis aufs Blut bekämpften. Ganze Landstriche wurden entvölkert, Städte zerstört, Ernten vernichtet. Etwa 20?Prozent der Bevölkerung des Reichs starben; in besonders hart getroffenen Regionen wie Mitteldeutschland, der Pfalz oder Württemberg lag die Zahl der Opfer bei einem Drittel oder mehr.
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und dem Kulturkampf verschärfte sich die konfessionelle Trennung sogar noch weiter: Der protestantisch geprägte Nationalstaat stellte die katholische Kirche politisch und organisatorisch unter Druck, was das Misstrauen zwischen den Konfessionen verstärkte. Religion blieb ein zentrales Identitätsmerkmal - und ein Trennungsmerkmal. Katholiken und Protestanten bestanden weiterhin kompromisslos auf dem alleinigen Wahrheitsanspruch ihrer jeweiligen Konfession, und interkonfessionelle Ehen galten in beiden Lagern als problematisch oder gar unerwünscht.
Noch weit ins 20.?Jahrhundert hinein - insbesondere zwischen den 1940er- und 1960er-Jahren - führten interkonfessionelle Ehepläne in manchen Familien zu regelrechten Dramen. Kinder, die einen Partner einer anderen Konfession heiraten wollten, sahen sich einem unbarmherzigen familiären Druck ausgesetzt. In zahlreichen Fällen brachen Eltern den Kontakt ab, wenn ihre Kinder sich weigerten, dem Gebot der Religion zu folgen. Solche erzwungenen Trennungen hinterließen tiefe, oft lebenslange Wunden - bei den Kindern ebenso wie bei den Eltern - und führten zu emotionalen Traumata, die manchmal über Generationen weitergegeben wurden.
Diese persönlichen Dramen spiegeln die jahrhundertelange Geschichte der Spaltung wider: Eine Differenz, die mit Luthers Reformation vor über 500 Jahren begann, wirkte noch in Familien nach, die damals glaubten, durch strikte Religionszugehörigkeit moralische Ordnung zu sichern.
Die konfessionelle Identität blieb somit über 5 Jahrhunderte hinweg prägend, insbesondere dort, wo religiöse Traditionen tief verwurzelt waren. Säkularisierung, Urbanisierung und gesellschaftliche Liberalisierung trugen zwar zu Annäherung und Vermischung bei, doch die Zugehörigkeit zu einer Konfession blieb ein zentraler Bestandteil persönlicher und familiärer Identität.
Über diese Jahrhunderte hinweg zeigt sich damit eindrücklich: Die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten konnte nie vollständig überwunden werden. Sie wandelte sich lediglich von offenen Konflikten hin zu subtileren, aber ebenso tiefgreifenden Formen der Distanz, die bis heute in Familien und Gemeinschaften nachwirken.
In den 1960er Jahren sprach der CSU-Politiker Franz Josef Strauß von den "Nordlichtern" - damit meinte er die nördlich des sogenannten "Knödeläquators" liegenden Regionen, also etwa nördlich des Mains, die überwiegend protestantisch geprägt waren. Humorvoll wie der Begriff klingt, spiegelt er dennoch eine historische Realität wider: In weiten Teilen Norddeutschlands stellten Protestanten die Mehrheit, während es auch nördlich des Knödeläquators katholische Ausnahmen gab, wie zum Beispiel das Münsterland, die Eifel oder einzelne Gebiete im Rheinland und in Hessen.
Wenn man über den deutschen Tellerrand schaut, erkennt man, dass sich im Laufe der Geschichte zahlreiche christliche Gruppen von der römisch-katholischen oder später auch der lutherischen Kirche abspalteten. Zu den älteren, traditionellen Gemeinschaften gehören etwa die Calvinisten, die Hugenotten, die Täuferbewegungen mit Hutterern, Mennoniten und Amischen sowie verschiedene reformierte Kirchen in den Niederlanden, der Schweiz und Nordamerika.
Viele dieser Gruppen entwickelten über die Jahrhunderte einen starken inneren Zusammenhalt und eine deutliche Abgrenzung gegenüber der Außenwelt - teilweise aus theologischen Gründen, teilweise aus der Erfahrung religiöser Verfolgung heraus. Nicht wenige von ihnen vertreten bis heute die Auffassung, dass ihre Form des Glaubens die einzig richtige oder zumindest die einzig wahre Interpretation des Christentums sei.
Die Mennoniten, deren Wurzeln im niederländisch-norddeutschen Raum liegen, verließen ihre Heimat aus dem gleichen Grund, der viele religiöse Minderheiten zur Wanderung zwang: Sie suchten Ruhe, Schutz und die Möglichkeit, ihren Glauben ohne äußeren Druck auszuüben. Da sie dies in den Niederlanden nicht in der gewünschten Form fanden, folgten viele von ihnen im 18. und frühen 19. Jahrhundert der Einladung russischen Zarin Katharina der Großen und siedelten sich im südlichen Russland, insbesondere in den Regionen der heutigen Ukraine, an. Auch ihr Enkel Alexander I. bestätigte später die gewährten Privilegien. Dort erhielten sie, zumindest für eine Zeit lang, genau das, was ihnen in Westeuropa verwehrt blieb - Religionsfreiheit, Selbstverwaltung und eine weitgehende Abschirmung von der Mehrheitsgesellschaft.
Als mit der Zeit die Bedingungen - durch staatlichen Druck, Kriege und Verfolgung - untragbar wurden, wanderten viele Mennoniten erneut aus: zwischen 1874 und 1880 in großer Zahl in die neue Welt, vor allem in die USA und nach Kanada. Im 20. Jahrhundert folgten weitere Auswanderungswellen nach Nord- und Südamerika. Bis heute existieren weltweit mennonitische Gemeinden. Einige konservative Gruppen leben weitgehend abgeschieden, bewahren alte Traditionen und sprechen noch den Dialekt Plautdietsch - ein Relikt der niederdeutschen Ursprünge. Doch die Gemeinschaften sind nicht homogen: Es gibt auch modernere Zweige, die offener leben und sich stärker mit der Mehrheitsgesellschaft verbinden.
Aber auch diejenigen die sich mit der Mehrheitsgesellschaft verbinden tun dies nur marginal. In Kanada zeigt sich, wie stark der Wunsch nach religiöser und kultureller Eigenständigkeit mennonitische Gemeinschaften bis heute prägt. Selbst in modernisierten Gemeinden wie im südlichen Manitoba - rund um Winkler und Morden - leben Mennoniten äußerlich angepasst an das moderne Leben: mit Autos, Geschäften, Schulen und einer weitgehend offenen Alltagskultur. Doch trotz dieser Modernität bleiben sie in vielem unter sich. Ihre sozialen Strukturen, ihre Familienbindungen und ihre religiösen Traditionen bilden eine geschlossene Welt innerhalb der kanadischen Gesellschaft.
Dasselbe gilt für die Gemeinden im Raum Kenora. Auch dort sprechen viele bis heute "Deutsch", genauer: Plautdietsch, den niederdeutschen Dialekt ihrer Vorfahren. Sprache, Glauben und gemeinschaftliche Abgeschiedenheit verbinden sie über Jahrhunderte hinweg und bis in die Gegenwart.
Während einige mennonitische Gemeinschaften in Nordamerika - etwa in Südmanitoba rund um Winkler oder im Raum Kenora - vergleichsweise offen leben und sich zumindest äußerlich an moderne Lebensgewohnheiten angepasst haben, pflegen sie dennoch eine deutliche kulturelle Abgrenzung, etwa durch ihre eigene Sprache und weitgehend innerhalb der Gruppe geschlossene soziale Strukturen.
In Lateinamerika allerdings - etwa in Mexiko, Belize, Paraguay, Bolivien oder Argentinien - leben viele Mennoniten wesentlich abgeschiedener als in Kanada. Dort haben sie Kolonien gegründet, die oft fernab anderer Siedlungen liegen, ihre eigenen Schulen, Regeln und Lebensformen besitzen und teilweise nur in geringem Maße moderne Technik akzeptieren. Die meisten sprechen weiterhin Plautdietsch, eine alte mennonitische Varietät des Niederdeutschen, die sie seit Jahrhunderten bewahrt haben. Ihr Ziel war es - und ist es in vielen Kolonien bis heute -, eine Form des religiösen und gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bewahren, die möglichst wenig von äußeren Einflüssen berührt wird.
Was all diese mennonitischen Gemeinschaften - ebenso wie viele andere traditionell abgespaltene christliche Gruppen - verbindet, ist ihr ausgeprägtes Bedürfnis, in religiöser, kultureller und sozialer Abgeschlossenheit zu leben. Sie bevorzugen eine Lebensweise, die sich weitgehend innerhalb der eigenen Gemeinschaft vollzieht und in der äußere Einflüsse möglichst gering gehalten werden.
Obwohl sie rechtlich Bürger der Staaten sind, in denen sie leben, verstehen sie sich in vielen Fällen nur am Rande als Teil der Mehrheitsgesellschaft. Ihr eigentliches gesellschaftliches und identitätsstiftendes Bezugssystem bleibt die eigene Glaubensgemeinschaft, deren Regeln, Traditionen und Werte das tägliche Leben bestimmen und deren Zusammenhalt wichtiger ist als die Integration in die umgebende Bevölkerung.
In der moderneren Zeit entstanden zahlreiche christliche Sondergemeinschaften, die sich durch eigene Lehren, Strukturen und teilweise strenge Regeln auszeichnen. Dazu zählen unter anderem die Zeugen Jehovas, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen), Adventisten, verschiedene Pfingstkirchen, die Heilsarmee, die Christliche Wissenschaft sowie exklusive Brüdergemeinden. Auch diese Gruppen zeigen eine deutliche Tendenz zur inneren Geschlossenheit: Sie pflegen ein von der Mehrheitsgesellschaft teils abgeschirmtes Leben, richten soziale Beziehungen, Rituale und Bildungsformen vor allem nach den eigenen Regeln aus und erhalten so ihre religiöse Identität.
Obwohl ihre Mitglieder formal Bürger der Staaten sind, in denen sie leben, gilt ihr primäres Zugehörigkeitsgefühl der eigenen Glaubensgemeinschaft. Viele dieser Gruppen vertreten zudem den Anspruch, ihre Interpretation des christlichen Glaubens als besonders verbindlich oder vollständig zu sehen, wodurch die Abgrenzung zur übrigen Gesellschaft gestärkt wird.
In den nordamerikanischen Staaten, insbesondere in den USA und Kanada, sowie in weiten Teilen Lateinamerikas stehen viele ländliche und abgelegene Gebiete zur Verfügung. Dies ermöglicht es diesen Gemeinschaften, die sich bewusst von der Mehrheitsgesellschaft absondern wollen, auch in modernen Zeiten weitgehend autonom zu leben. Sie können dort eigene soziale Strukturen, Bildungsformen, wirtschaftliche Aktivitäten und religiöse Rituale pflegen und so ihre religiöse Identität und kulturelle Eigenständigkeit weitgehend bewahren. Dabei sind sie zwar formal Bürger der jeweiligen Staaten, leben aber in ihrem Alltag oft stark innerhalb der eigenen Gemeinschaft und nur teilweise in die Umgebung integriert.
Die Integration fremder Kulturen und Religionen in Deutschland lässt sich am Beispiel Syriens besonders deutlich betrachten, denn dort zeigt sich eine Komplexität, die weit über das hinausgeht, was historisch in Deutschland je existierte. Syrien besteht aus einer Vielzahl religiöser und ethnischer Gruppen - Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen, Ismailiten, Salafisten, verschiedenen christlichen Konfessionen, Jesiden, Bahai; dazu ethnisch Araber, Kurden, Turkmenen, Armenier, Assyrer und weitere. Diese Strukturen sind kein theoretisches Nebeneinander, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Spannungen, Loyalitätskonflikte und Gewalt.
Wer aus einem solchen Umfeld nach Deutschland kommt, bringt nicht nur eine persönliche Lebensgeschichte mit, sondern auch tief verwurzelte Konfliktmuster, Gruppenzugehörigkeiten und kulturell geformte Loyalitäten, die in der Herkunftsgesellschaft nie gelöst wurden.
Vor diesem Hintergrund zeigt die deutsche Geschichte ein ernüchterndes Bild: Selbst in einem Land mit einer vergleichsweise homogenen christlichen Kultur hat es über 500 Jahre gedauert, um die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten nicht zu überwinden, sondern lediglich zu befrieden. Bis heute bestehen Misstrauen, Vorurteile und ein deutliches konfessionelles Gefälle in vielen Regionen.
Wenn schon diese historisch gewachsene, kulturell nahe Konfessionsspaltung über ein halbes Jahrtausend nicht vollständig überwunden werden konnte, stellt sich zwingend die Frage: Wie soll eine Gesellschaft wie Deutschland Kulturen integrieren, deren Konfliktlinien ungleich tiefer, zahlreicher und gewaltsamer sind als die innerdeutschen Unterschiede?
Deutschland ist heute ein Land, in dem nicht nur Syrer leben, sondern Menschen aus nahezu allen Teilen Europas, des Nahen Ostens, Südasiens, aus Nordafrika und Subsahara-Afrika. Jede dieser Gruppen bringt eigene Normen, Werte, Vorstellungen von Zusammenleben, Erziehung, Religion und politischer Ordnung mit. Diese Vielfalt erzeugt keine harmonische Einheit, sondern Konkurrenz, Reibung und das Aufeinandertreffen von Weltbildern, die sich teilweise unmittelbar widersprechen.
Unter diesen Bedingungen ist nicht von gelingender Integration auszugehen, sondern vom Gegenteil: Deutschland steuert auf ein gesellschaftliches Spannungsfeld zu, das sich nicht befrieden lässt, weil es aus Konflikten besteht, die nicht hier entstanden sind - und die sich auch hier nicht auflösen werden. Die Idee einer umfassenden Integration erweist sich damit nicht als Zukunftsmodell, sondern als Illusion.
