Propagandaanalyse Totalitarismus
Von DR. PHIL MEHRENS
Gift in der Milch? Warum Deutschland unter einer Skepsis-Sepsis leidet, in der lieber vorverurteilt, gewettert und gepöbelt als diskutiert wird, und was Politik und Zivilgesellschaft von Alfred Hitchcock lernen können.
Zweifel säen, Verunsicherung nähren, Widersprüche in den Vordergrund rücken: In dem Filmklassiker “Verdacht” (1941) spielt Regisseur Alfred Hitchcock gewohnt virtuos mit den Erwartungen und (filmischen) Erfahrungen des Zuschauers. Im Vordergrund steht Cary Grant als ins Zwielicht geratener Frauenschwarm Johnnie Aysgarth, dessen Ehefrau Lina (Joan Fontaine) nach und nach herausfindet, dass ihr Mann Geheimnisse vor ihr hat. Er hat unsolide gelebt, Geld unterschlagen und dies vor seiner Frau verheimlicht. Schließlich keimt in Lina der Verdacht, dass Johnnie sie nur um ihres Vermögens willen geehelicht hat. Als ein Geschäftspartner von Johnnie unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, glaubt Lina, Johnnie wolle nun auch sie umbringen. Die Handlung kulminiert in einer filmhistorischen Szene, in der Johnnie seiner Frau ein Glas Milch serviert, von der nicht nur Lina, sondern auch der Zuschauer annehmen muss, dass sie vergiftet ist.
Als in der vergangenen Woche der ehemalige Sportreporter Marcel Reif, dessen Vater die Shoah überlebt hat, im Bundestag eine bewegende Rede hielt, die in dem Ausspruch “Sei ein Mensch” gipfelte, gab es viel Beifall von allen Seiten.
Manche Menschenleben wiegen schwerer
Einen bewegenden, mit persönlichen Anmerkungen über seine Enkelin garnierten Appell an die Mitmenschlichkeit richtete am 1. Oktober 2020, auf dem Höhepunkt der CoVid-19-Krise, auch der Abgeordnete Martin Hohmann, ehemals CDU, an das Parlament. Reif erinnerte an die Vernichtung des europäischen Judentums in der Vergangenheit, Hohmann an die vorgeburtliche Vernichtung von Menschenleben in der Gegenwart. Beide Redebeiträge passten zu der Überschrift “Sei ein Mensch”. Gleichwohl hätte die Rezeption der beiden Ansprachen vor dem hohen Hause nicht unterschiedlicher sein können: Anders als die allseits mit Respekt aufgenommene Rede von Reif war die von Martin Hohmann von hämischen Zwischenrufen, namentlich seitens der heutigen Familienministerin Lisa Paus, überschattet. Entschiedenen Beifall gab es nur von der AfD-Fraktion, der Hohmann, der sich in der Parteigruppierung Christen in der AfD (ChrAfD) engagiert, heute angehört.
Da die totale Legalisierung der Tötung Ungeborener Teil der radikalfeministischen Agenda ist, die sich bei den Grünen und nun auch im Ampel-Kabinett durchgesetzt hat, kommt mangelnder Zuspruch seitens linker und linksliberaler Parteien nicht überraschend.
CDU im radikalfeministischen Gleichschritt
Doch für die frappierende Differenz bei der Rezeption der beiden Menschlichkeitsappelle – warum stellte die Christlich-Demokratische Union sich nicht demonstrativ auf Hohmanns Seite? – gibt es wohl noch einen zweiten Grund, der seine Parallele in der aktuellen zivilgesellschaftlichen Hass- und Pöbelkampagne gegen Rechts findet: dass nämlich praktisch alle Äußerungen von AfD-Politikern unter einem Verdachtsvorbehalt stehen, der der durch Zweifel, falsche Schlussfolgerungen und Fehlinterpretationen belasteten Beziehung Linas zu ihrem Ehemann Johnnie aufs Haar gleicht. Was Martin Hohmann, Beatrix von Storch oder Bernd Baumann zur öffentlichen Debatte beizutragen haben, gleicht dem Glas Milch, in dem – so wird kolportiert – der Meister der Spannung eine Glühbirne hatte installieren lassen, um es unheilvoll leuchten und so auf das Unterbewusstsein des Zuschauers wirken zu lassen.
Auf diese Weise leuchten lassen Meister der politischen Inszenierung und der geschickten Manipulation, politische Hitchcocks sozusagen, derzeit auch Zweifel an einer unbequem gewordenen Opposition. Auch die von der Berliner Morgenpost veröffentlichte Stellungnahme von “Nachfahren” bekannter Persönlichkeiten der NS-Ära – darunter verblüffenderweise sogar des kinderlosen Dietrich Bonhoeffer – ist so eine manipulative Glühbirne.
In der Literaturwissenschaft spricht man von einer Hermeneutik des Verdachts, wenn einer Äußerung oder einem Text nicht unvoreingenommen begegnet werden kann. Der Begriff beschreibt die berechtigte Haltung des Rezipienten, insbesondere in totalitären oder autoritären Systemen, gegenüber offiziellen Verlautbarungen. Wenn beispielsweise in China vor “unpatriotischen Aktivitäten” gewarnt wird, dann lautet eine naheliegende Interpretation, dass das Ziel der Warnung die Delegitimation einer regierungskritischen Person oder Bewegung ist.
Das Gegengift
Was ist nun mit dem Glas, das Cary Grant der vor Angst wie gelähmten Joan Fontaine servierte? Im Gegensatz zum Zuschauer im Kino oder heimischen Wohnzimmer hat eine wache Zivilgesellschaft Möglichkeiten, die dem Filmpublikum versagt sind und von denen – seltsam, seltsam – fast nie Gebrauch gemacht wird: Sie kann das zweifelhafte Glas Milch sehr genau unter die Lupe nehmen, im Grunde sogar, im Bild gesprochen, eine zweifelsfrei Aufschluss gebende wissenschaftliche Analyse des Verdachtsgegenstands vornehmen: durch das akribische Studium von Parteiprogrammen und Bundestagsreden, AfD-Anträgen und kleinen Anfragen sowie durch den nicht minder akribischen Abgleich der so gewonnenen Erkenntnisse mit dem Grundgesetz und den eigenen Überzeugungen.
Denn vor allem anderen ist eine Partei, die im Parlament sitzt, erst mal ein Angebot an den Wähler, das er annehmen oder ablehnen kann, und kein “Verdachtsfall”. Genau wie bei Johnnie Aysgarth würde eine solche Analyse am Ende an den Tag bringen, dass nicht jeder Parteirepräsentant über jeden Zweifel erhaben ist. Das ist allerdings – man denke an die beiden Ministerinnenrücktritte, die das Ampel-Kabinett verkraften musste, an Maskengeschäfte und verschwundene Diensttelefon-Kurznachrichten – kein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Vor allem würde sich aber herausstellen: Der Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit ist eine Zeitungsente.
An einer Hermeneutik des Verdachts, mit der der Bürger Staat und Politik auf den Prüfstand stellt, ist nichts auszusetzen, und noch weniger an einem Appell zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten – sofern beides unterschiedslos allen politischen Akteuren gilt und nicht einseitig die einen stärkt – eine Ministerin beispielsweise, die den Verfassungsschutz selbstherrlich zum Kampf gegen politische Gegner missbraucht – und die anderen schwächt. Auf jeden Fall ist eine Hermeneutik des Verdachts angesagt, wenn die Demokratie durch den vereinten Kampf gegen die Opposition “verteidigt” werden soll. Denn das klingt eher nach Demokratie im Bananenrepublik-Modus, nach einer Skepsis-Sepsis, die den Rechtsstaat zerstört, als nach der prinzipiell kritischen Grundhaltung, die gesund für die Demokratie ist.
Cary Grant steht am Ende von “Verdacht” übrigens nicht mit weißer Weste da. Ein Mörder aber ist er nicht. Das gefährliche Gift befand sich nicht in der Milch, sondern im Kopf seiner Frau.
(beischneider.net)