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Kein Volk, kein Lied?

Wo sind die deutschen Volkslieder geblieben?

Von David Cohnen

Die WDR-4 TOP 444 präsentiert eine Auswahl von 444 Musiktiteln, die nach dem Votum der Hörerinnen und Hörer zu den beliebtesten gehören und am Abend des 29.11.2025 auch im WDR-Fernsehen übertragen wurden. Neben Pop-, Rock- und Schlagertiteln fallen besonders jene Stücke auf, die auf traditionelle musikalische Formen zurückgreifen oder entsprechende Elemente enthalten. Auffällig ist dabei, dass die überwältigende Mehrheit dieser traditionellen Einflüsse aus dem angelsächsischen Raum stammt, während traditionelle deutsche Lieder in der Liste vollständig fehlen.

Angelsächsische Traditional- und Folk-Titel in der Liste
In der TOP-444 tauchen mehrere Titel auf, die als direkte traditionelle Volkslieder angelsächsischer Herkunft gelten. Dazu zählen:

  • The House of the Rising Sun - The Animals (Platz 25): Traditionelle Ballade aus dem englisch-amerikanischen Raum, Ursprung vermutlich 17.-18. Jahrhundert, erste schriftliche Quellen ab 1825.
  • Morning Has Broken - Cat Stevens (Platz 49): Die Melodie Bunessan stammt aus Schottland, ursprünglich 19. Jahrhundert, als traditionelle Hymne in der Region Bunessan auf der Insel Mull aufgezeichnet.
  • Loch Lomond - Runrig (Platz 138): Klassisches schottisches Volkslied, vermutlich zwischen 1700 und 1740 entstanden.
  • Whiskey in the Jar - Thin Lizzy (Platz 143): Irisches Volkslied, überliefert als Folkballade aus dem 18. Jahrhundert.
  • Sloop John B. - The Beach Boys (Platz 426): Traditioneller bahamaischer Folk-Song, 19. Jahrhundert bzw. früher.
  • El Cóndor Pasa - Simon & Garfunkel (Platz 307): Melodie von Daniel Alomía Robles (1913), basiert auf älteren peruanischen Anden-Folk-Traditionen ab ca. 16.-17. Jahrhundert.
  • Streets of London - Ralph McTell (Platz 234): Modern komponierter Folk-Song, inspiriert von englischer Singer-Songwriter-Tradition des 17.-18. Jahrhunderts.

Diese Titel sind direkte Zeugnisse der Überlieferung angelsächsischer Folklore und zeigen, dass historische Lieder dort im öffentlichen Bewusstsein fortbestehen.

Lieder, die auf Traditionen aufbauen
Zusätzlich enthält die TOP-444 moderne Lieder, die sich stark an angelsächsischen Traditionen orientieren oder deren Stil auf historischen Formen basiert, ohne selbst überlieferte Stücke zu sein. Beispiele:

  • The Boxer - Simon & Garfunkel (Platz 69): Komponiert 1969-1970. Die Balladenform lehnt sich an traditionelle englische und irische Folksongs an.
  • Mull of Kintyre - Wings (Platz 190): Komponiert 1977 von Paul McCartney. Melodisch inspiriert von schottisch-gälischen Volksliedern und Militärmärschen.

Diese Songs greifen die Folktradition melodisch, harmonisch und in der Erzählstruktur auf und machen sie hörbar für ein Publikum, das klassische Überlieferungen sonst kaum wahrnimmt.

Night of the Proms - angelsächsische Volkslieder im deutschen Fernsehen
Night of the Proms ist ein Konzertformat, das klassische Musik mit Pop und Folk verbindet und seit vielen Jahren auch im deutschen Fernsehen übertragen wird. Hier werden regelmäßig traditionelle angelsächsische Lieder aufgeführt, darunter:

  • Danny Boy - klassische irische Ballade, oft als inoffizielle Nationalhymne bezeichnet. Die Melodie, bekannt als Londonderry Air, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts (ca. 1855-1857) von Jane Ross aus Limavady, Nordirland, gesammelt. Der Text von Danny Boy stammt von Frederick Weatherly aus dem Jahr 1913.
  • Scarborough Fair - englisches Volkslied aus dem 17. Jahrhundert, bekannt durch Simon & Garfunkel.
  • Greensleeves - traditionelle englische Melodie aus dem 16. Jahrhundert.
  • Loch Lomond - klassisches schottisches Volkslied aus dem 18. Jahrhundert.
  • The Water Is Wide - traditionelle Ballade aus Großbritannien, wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert.

Durch moderne Orchestrierung und die Kombination mit Popinterpreten bleibt die angelsächsische Folklore einem breiten deutschen Publikum zugänglich. Im Gegensatz dazu existiert in Deutschland keine vergleichbare Sendung, die ausschließlich deutsche Volkslieder präsentiert oder traditionelle deutsche Musik auf diese Weise in den Mainstream überträgt.

Fehlende Präsenz deutscher Volkslieder
Während die TOP-444 zahlreiche angelsächsische Traditionslieder und moderne Adaptionen enthält, ist kein einziges deutsches Volkslied oder Stück mit historischer Volksliedtradition vertreten. Volkstümlich klingende Lieder stammen meist aus modernen Kompositionen ohne Bezug zur überlieferten Tradition. Die deutsche Volksmusik ist im öffentlichen Raum weitgehend unsichtbar. Sie beschränkt sich größtenteils auf Nischen wie traditionelle Chöre, die außerhalb der Öffentlichkeit agieren; in populären Medien und Hitparaden ist sie praktisch nicht vertreten.

Der Höhepunkt des Nichtvorhandenseins deutscher Tradition
Ein besonders auffälliges Beispiel für das fast vollständige Verschwinden deutscher kultureller Präsenz im öffentlichen Raum ist die Wahrnehmung des Lieds der Deutschen. Viele Deutsche, ja man könnte sagen die meisten, glauben fälschlicherweise, dass es verboten sei, dieses Lied in der Öffentlichkeit vorzutragen. Dabei ist das Lied der Deutschen ursprünglich eine Liebeserklärung des Dichters Hoffmann von Fallersleben an Deutschland, an das deutsche Volk, die deutsche Kultur und die deutschen Lebensgewohnheiten - nichts anderes.

Schlussfolgerung
Die WDR-4 TOP-444 und die weiteren Beispiele verdeutlichen, dass traditionelle Musik aus dem angelsächsischen Raum im deutschen öffentlichen Raum eine dominante Präsenz besitzt. Überlieferte Songs, moderne Adaptionen und folk-inspirierte Pop-Titel sind durchgängig vertreten und haben die Sichtbarkeit traditioneller deutscher Volkslieder verdrängt. Deutsche Volkslieder sind im öffentlichen Bewusstsein nur noch eingeschränkt präsent. Die Liste zeigt, dass nur Musik aus dem angelsächsischen Kulturraum erfolgreich die Brücke von historischer Überlieferung zu modernem Pop schlägt, während deutsche Lieder dieser Kategorie im Mainstream keinerlei Repräsentanz besitzen.

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