Springe zum Inhalt

Anarchie und Sklaverei

Unduldsamkeit, Herrschsucht (autoritarisme) und Konservatismus der Massen

Von Gustave Le Bon

Die Massen kennen nur einfache und übertriebene Gefühle. Meinungen, Ideen, Glaubenssätze, die man ihnen einflößt, werden daher nur in Bausch und Bogen von ihnen angenommen oder verworfen und als unbedingte Wahrheiten oder ebenso unbedingte Irrtümer betrachtet. So geht es stets mit Überzeugungen, die auf dem Wege der Beeinflussung, nicht durch Nachdenken erworben wurden. Jedermann weiß, wie unduldsam die religiösen Glaubenssätze sind und welche Gewaltherrschaft sie über die Seelen ausüben. Da die Masse in das, was sie für Wahrheit oder Irrtum hält, keinen Zweifel setzt, andererseits ein klares Bewußtsein ihrer Kraft besitzt, so ist sie ebenso eigenmächtig wie unduldsam. Der einzelne kann Widerspruch und Auseinandersetzung anerkennen, die Masse duldet sie niemals. In den öffentlichen Versammlungen wird der leiseste Widerspruch eines Redners sofort mit Wutgeschrei und groben Schmähungen beantwortet, und wenn der Redner beharrlich ist, folgen leicht Tätlichkeiten, und der Redner wird hinausgeworfen.

Ohne die einschüchternde Anwesenheit der Sicherheitsbehörde würde man oft den Gegner lynchen. Herrschsucht und Unduldsamkeit finden sich bei allen Arten der Massen, aber in ganz verschiedenen Graden, und hier kommt wieder der Grundbegriff der Rasse zur Geltung, die alles Fühlen und Denken der Menschen beherrscht. Herrschsucht und Unduldsamkeit sind besonders bei den lateinischen Massen ausgebildet, und zwar in solchem Maße, daß es ihnen fast gelungen ist, das Gefühl der persönlichen Unabhängigkeit, das bei den Angelsachsen so mächtig ist, bei ihnen völlig zu vernichten. Die lateinischen Massen haben nur Gefühl für die Gesamt-Unabhängigkeit ihrer Sekte, und bezeichnend für diese Unabhängigkeit ist das Bedürfnis, alle Andersgläubigen sofort und gewaltsam für ihren eigenen Glauben zu gewinnen. Von der Inquisition angefangen, konnten sich bei den lateinischen Völkern die Jakobiner aller Zeiten niemals zu einem andern Freiheitsbegriff aufschwingen.

Herrschsucht und Unduldsamkeit sind für die Massen sehr klare Gefühle, die sie ebenso leicht ertragen, wie sie sie in die Tat umsetzen. Die Massen erkennen die Macht an
und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflußt. Niemals galten ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden. Ihnen haben sie stets die größten Denkmäler errichtet. Wenn sie den gestürmten Despoten gern mit Füßen treten, so geschieht das,
weil er seine Macht eingebüßt hat und in die Reihe der Schwachen eingereiht wird, die man verachtet und nicht fürchtet. Das Urbild des Massenhelden wird stets Cäsaren-
charakter zeigen. Sein Helmbusch verführt sie, seine Macht flößt ihnen Achtung ein, und sein Schwert fürchten sie. Stets bereit zur Auflehnung gegen die schwache Obrigkeit, beugt sich die Masse knechtisch vor einer starken Herrschaft. Ist die Haltung der Obrigkeit schwankend, so wendet sich die Masse, die stets ihren äußersten Gefühlen folgt, abwechselnd von der Anarchie zur Sklaverei, von der Sklaverei zur Anarchie.

Übrigens würde man die Psychologie der Massen ganz mißverstehen, wenn man an die Vorherrschaft ihrer revolutionären Triebe glaubte. Nur ihre Gewalttaten täuschen
uns über diesen Punkt. Die Ausbrüche der Empörung und Zerstörung sind immer nur von kurzer Dauer. Die Massen werden zu sehr vom Unbewußten geleitet und sind also dem Einfluß uralter Vererbung zu sehr unterworfen, als daß sie nicht äußerst beharrend sein müßten. Wenn sie sich selbst überlassen werden, erlebt man bald, daß sie, ihrer Zügellosigkeit überdrüssig, instinktiv der Knechtschaft zusteuern. Die kühnsten und schroffsten Jakobiner stimmten Bonaparte entschieden zu, als er alle Freiheiten aufhob und seine eiserne Hand schwer fühlen ließ. Die Geschichte der ölkerrevolutionen ist fast unverständlich, wenn man die von Grund aus beharrenden Triebkräfte der Massen verkennt. Sie wünschen zwar die Namen ihrer Einrichtungen zu wechseln, und um diesen Wechsel zu vollziehen, machen sie zuweilen sogar große Revolutionen durch, aber der Kern dieser Einrichtungen ist zu sehr Ausdruck der erblichen Bedürfnisse der Rasse, als daß sie nicht immer wiederkehren müßten. Die unaufhörliche Veränderlichkeit der Massen erstreckt sich nur auf ganz äußerliche Dinge.

In Wahrheit haben sie nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte, und wie alle Primitiven eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewußten Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten. Hätte die Demokratie in der Zeit der Erfindung der mechanischen Webstühle, der Dampfmaschine, der Eisenbahnen, die Macht besessen, über die sie heute verfügt, so wäre die Verwirklichung dieser Erfindungen unmöglich gewesen. Es ist ein Glück für den Fortschritt der Kultur, daß die Übermacht der Massen erst dann geboren wurde, als die großen Entdeckungen der Wissenschaft und der Industrie vollendet waren.
(Aus "Psychologie der Massen",  1895, Gustave Le Bon)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert