Palavert der Bundestag zu viel?
Von Gastautor Hermann Krämer
Am 23./24. April 2024 fand in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Mündliche Verhandlung zu den Klagen der Bayerischen Staatsregierung, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und weiterer Beschwerdeführer*Innen wie den Linken oder über 4000 Einzelklägern zum derzeit geltenden Wahlrecht der Ampelregierung statt. Die Entscheidung des Gerichts wird zeitnah erwartet und möglicherweise endlich den vom früheren Bundespräsidenten Roman Herzog 1977 geforderten „Ruck durch Deutschland“ herbeiführen.
Ich durfte der Verhandlung beiwohnen und war beeindruckt über den würdevollen demokratischen Ablauf. Das BVerfG ist Ausdruck von Rechtsstaatlichkeit und freiheitlich-demokratischer Grundhaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Es setzt sich aus zwei Senaten mit jeweils acht Mitgliedern zusammen. Der Präsident ist derzeit Vorsitzender des Ersten Senats, die Vizepräsidentin ist Vorsitzende des Zweiten Senats. In beiden Senaten gibt es mehrere Kammern mit drei Mit-gliedern. Die 16 Richterinnen und Richter werden jeweils durch vier Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützt. Diese bringen regelmäßig eine mehrjährige Berufserfahrung an Fachgerichten, Behörden, in Rechtsanwaltskanzleien oder der Rechtswissenschaft mit (vgl. Organisation BVerfG). Im Jahr 2022 gingen 4.934 Verfahren beim BVerfG ein. Jedes Mitglied wirkt an über 1000 Verfahren pro Jahr mit.
Über das hart umstrittene Wahlrecht wurde nun an 2 Tagen auf höchstem juristischen, aber auch politischem Niveau verhandelt.* Eigentlich ging die Vorsitzende Richterin, Frau Prof. Dr. Doris König, davon aus, die Mündliche Verhandlung am 2. Tag gegen Mittag abschließen zu können. Sowohl der Diskussionsbedarf als auch die Nachfragen der Richter*innen waren jedoch so intensiv, daß sie die Verhandlung bis nach 18.00 Uhr fortführte. Welch wertvoller demokratischer Prozeß!
Zum Schutz des BVerfG vor möglichen populistischen Entmachtungen wird zurzeit sowohl von der Ampelregierung als auch der CDU/CSU Oppositionsfraktion erwogen, seine Strukturen sowie die Wahl und die Amtszeit der Richter*Innen im Grundgesetz abzusichern. Anstelle der einfachen Mehrheit bräuchte es dann eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, um einen parteipolitischen Einfluß auf das Gericht zu nehmen. Für die aktuelle Stärkung des BVerfG im Grundgesetz ist eine 2/3-Mehrheit erforderlich. Es ist ein Musterbeispiel, welch lange Zeit der mit 735 Mitgliedern aufgeblähte Deutsche Bundestag benötigt, bis er sich für den Schutz des BVerfG und damit unserer Demokratie einigt. Im schlimmsten Fall spürt das BVerfG nun „am eigenen Leib“ die Handlungsunfähigkeit des Parlaments zu einer rechtzeitigen Entscheidung durch leerlaufendes Palavern. Vielleicht würde auch das zügiger geschehen, wenn eine strikte Obergrenze von 598 Abgeordneten im Grundgesetz stünde und nicht ebenfalls ständig geändert werden könnte.
Bleibt mir nur die Anregung für eine alte Uhr im Foyer des BVerfG zu geben. Darauf zu vertrauen, daß jedermann seine Armbanduhr, Handy, Laptop dabei hat, diese aber teilweise nicht benutzen darf, reicht nicht; auch zu hören, wem die Stunde schlägt, ist wertvoll.
Hermann Krämer www.wahlrechtsreform.com
* vgl. zum Beispiel: Universität Düsseldorf: Das neue Wahlrecht auf dem Prüfstand: Prof. Dr. Sophie Schönberger als Verfahrensbevollmächtigte der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht oder Dr. Christian Rath in LTO: BVerfG wird Wahlrecht beanstanden.
(vera-lengfeld.de)