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Eine frühe Dystopie

Jewgenij Samjatin „Wir“ 

Von Vera Lengsfeld

Von Jewgenij Samjatin weiß man nicht viel, nur dass er ein Revolutionär und Schriftsteller war. Er hat den Aufstand auf dem Panzerkreuzer „Aurora“ mitgemacht, der zum Startschuss des Oktoberputsches wurde. Samjatin hat wohl schnell gespürt, wohin diese „Revolution“ führt. Von allem, was er als Schriftsteller geschrieben haben mag, ist nur ein schmales Buch bekannt: „Wir“, das 1920 entstanden ist und als erstes Buch überhaupt schnell von den Bolschewiken verboten wurde.

Das erste Angebot, Russland zu verlassen, hat Samjatin Anfang der 20er Jahre noch abgelehnt, trotz Schreibverbots, das über ihn verhängt worden war. Aber 1929 nahm er die von Maxim Gorki vermittelte Möglichkeit wahr, nach Paris zu emigrieren, wo er wenige Jahre später mit Anfang 50 starb. Er hinterließ zahlreiche Novellen und Erzählungen, von denen die wenigsten ins Deutsche übersetzt worden sind.

„Wir“ ist der erste dystopische Roman und diente George Orwell als Anregung für sein "1984".

Erstaunlich ist, wie hellsichtig Samjatin totalitäre Strukturen und Methoden vorausgesehen hat.

Sein Roman spielt in einer Stadt, umgeben von einer grünen Mauer, die als Siegerin aus dem letzten, dem 200-jährigen Krieg – dem zwischen Stadt und Land – hervorging. Es herrschen Transparenz und ein Leben nach mathematischen Prinzipien. Es gibt keine Individuen mehr, nur noch Nummern. Es herrscht vollständige Transparenz, die Häuser sind aus Glas. Man sieht seinen nächsten Nachbarn ins Zimmer. Nur wenn man ein rosa Billett zugesellt bekommt, erhält man vom Blockwart die Erlaubnis, die Vorhänge zuzuziehen. Es gibt kein Chaos mehr, keine ungeordneten Gefühle, selbst der Himmel über der Stadt ist gleichmäßig blau.

Das Ganze ist in Tagebuchform beschrieben, das die Nr. D-503, oberster Ingenieur beim Projekt „Integral“ – einer Rakete, die über das All in den Rest der Welt einfallen und die Revolution exportieren soll – für seine Leser aus ihm selbst nicht ganz verständlichen Gründen führt. Er möchte voll und ganz ein loyaler Bewohner des einzigen Staates sein, spürt aber ab und zu Regungen, die es nicht geben dürfte und die ihn erschrecken.

Das kulminiert, als er auf einem Spaziergang während der Privaten Stunde, die alle noch haben, I-330 kennenlernt, die ihn fesselt, zugleich aber Angst macht. Sie, die heimlich zur Widerstandsbewegung im einzigen Staat zählt, zieht ihn immer mehr in ihren Bann. Nachdem sie unerlaubten Sex hatten, ist er ihr verfallen. Ob sie seine Gefühle erwidert oder ob sie ihn nur an sich bindet, weil er der Chef von „Integral“ ist, den die Widerständler in ihren Besitz bringen wollen, bleibt unklar.

Ausgerechnet am Tag der Einstimmigkeit, an dem alle Stadtbewohner den Wohltäter wieder wählen sollen, bricht der Aufstand los. Es gibt Hunderte Gegenstimmen, das Chaos bricht los, die offene Repression beginnt. Fluchten hinter die Mauer, Verfolgung und Verhaftungen lassen die Lage unübersichtlich werden. Es zeigt sich, dass der einzige Staat noch nicht alles im Griff hatte. Von seinen Ärzten war seit Längerem eine Krankheit entdeckt worden, die sie die „Entstehung einer Seele“ nannten.

Sie forschten fieberhaft nach einem Gegenmittel. Eine kleine Operation am Gehirn könnte Abhilfe schaffen. Wer sich nicht freiwillig dieser Operation unterzog, wurde von den Wächtern eingefangen und in die OP-Säle gebracht. Die frisch Operierten beteiligten sich dann an der Jagd auf noch nicht Operierte. Der Versuch der Widerständler, „Integral“ in Besitz zu nehmen, scheitert. Ihr Aufstand wird immer aussichtsloser. I-330 gibt D-503 die Schuld am Misslingen. Er will sich nicht operieren lassen, wird aber als einer der Letzten eingefangen und zwangsbehandelt.

Danach ist sein inneres Gefühlschaos vorbei. Er wird abkommandiert, der Folterung von I-330 beizuwohnen, der er regungslos zuschauen kann. Sie wird dreimal einer grausamen Prozedur unterzogen – eine Art trockenem Waterboarding durch Luftentzug unter einer Glasglocke –, ehe sie gesteht. Die meisten ihrer Mitgefangenen hatten schon beim ersten Mal geredet. D-503 beendet sein Tagebuch mit dem Eintrag, dass die offenen Stellen der grünen Mauer mit Starkstrom gesichert wurden und der einzige Staat siegen würde: „Denn die Vernunft muss siegen.“
(vera-lengsfeld.de)

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