War die „Bundesrepublik“ eine Volksherrschaft oder eine Mehrparteiendiktatur?
Von C. JAHN
Im Rückblick auf die „Bundesrepublik“ wird immer wieder die Frage diskutiert, ob dieser Staat tatsächlich eine „Demokratie“, also eine „Volksherrschaft“ war. Die Gegenthese vertritt bekanntlich den Standpunkt, dass der Staat „Bundesrepublik“ in Wahrheit eine Mehrparteiendiktatur bildete, in der zwar Wahlen erlaubt waren, ein Parteienkartell aber jede nennenswerte Oppositionsarbeit mit allen Mitteln verhinderte. Aus dieser Perspektive war der Staat „Bundesrepublik“ niemals eine echte Volksherrschaft, sondern immer nur eine spezielle Spielart von Diktatur.
Die Abgrenzung zwischen Volksherrschaft und Diktatur und damit auch die historische Urteilsfindung über den Staat „Bundesrepublik“ ist in der Theorie einfach, in der Praxis allerdings deutlich schwieriger.
Das immer wieder zu hörende Argument, das Mehrparteiensystem der „Bundesrepublik“ und die Wahlen seien bereits genügender Beweis für eine Volksherrschaft („Demokratie“), ist leicht zu entkräften. Auch die DDR war ein Mehrparteiensystem mit Wahlen und dennoch unstrittig eine Diktatur. Zahllose andere Länder auf der Welt lassen heute ebenfalls verschiedene Parteien zu Wahlen antreten, wissen die Macht der Opposition aber jeweils so geschickt einzuschränken, dass sie in der Praxis tatsächlich eher Diktaturen gleichen. Die Möglichkeit, zwischen mehreren Parteien zu wählen, bildet allein also keinen Anhaltspunkt dafür, ob ein Land im Sinne einer Volksherrschaft regiert wird oder nicht.
Was also ist das wirklich entscheidende Wesensmerkmal einer Volksherrschaft im Unterschied zur Diktatur?
In der Theorie der Volksherrschaft entsprechen alle politischen Entscheidungen dem Willen des Volkes, es ist also unmöglich, dass politische Entscheidungen getroffen werden, die dem Willen des Volkes zuwiderlaufen. Da der Wille des Volkes aber nur in direkten Abstimmungen herauszufinden ist und dies heutzutage zwar technisch machbar, aber aufwendig wäre, nutzen alle sogenannten Volksherrschaften der Gegenwart zur Verabschiedung ihrer Gesetze Parlamente aus sogenannten „Volksvertretern“. Diese Volksvertreter jedoch kennen den Willen des Volkes in jedem Einzelfall ebenfalls nicht oder wollen ihn vielleicht aus Eigennutz gar nicht zur Kenntnis nehmen. Es wird in der gelebten Praxis dieser „indirekten Volksherrschaften“ also immer Entscheidungen geben, die mit dem Willen des Volkes nicht übereinstimmen. Alle parlamentarischen Volksherrschaften haben daher zwangsläufig auch eine diktatorische Komponente.
Aufgrund dieser in jeder indirekten Volksherrschaft stets vorhandenen diktatorischen Komponente gibt es in der politischen Praxis auch keine klare Abgrenzung zwischen Volksherrschaft und Diktatur, der Übergang ist fließend. Die Gretchenfrage zur Unterscheidung zwischen Volksherrschaft und Diktatur muss daher richtigerweise lauten: In welchem Umfang ist es dem jeweiligen System gelungen, den Willen des Volkes tatsächlich umzusetzen, mehr oder weniger?
Dabei gilt: Je mehr der Wille des Volkes umgesetzt wird, desto mehr Volksherrschaft („Demokratie“) wird in einem System ausgeübt, und je weniger der Wille des Volkes für die praktische Politik an Bedeutung hat, desto stärker überwiegt die in allen parlamentarischen Systemen stets ebenfalls vorhandene Komponente der Diktatur.
Blicken wir nun auf die Geschichte der „Bundesrepublik“ zurück, so zeigt sich unzweifelhaft, dass sich seit etwa 25 Jahren der Abstand zwischen dem Willen des Volkes und den Entscheidungen der Politik auffällig vergrößert hat. Ganz wesentliche Richtungsentscheidungen der letzten 25 Jahre hatten im Volk niemals eine Mehrheit. Hätte man das Volk in direkten Abstimmungen nach seinem Willen befragt, hätte das Volk in Sachen Umvolkungspolitik, Energiepolitik, Schuldenpolitik, Schulpolitik, aber auch zur Lockdown-Politik während der Corona-Zeit, der Bürgergeld-Politik oder jüngst zur Freigabe von Rauschgift mit ziemlicher Sicherheit anders entschieden.
All diese Entscheidungen des Volkes hätten natürlich zu vielen Verlierern geführt – illegal einmarschierten Ausländern, Windkraftlobbyisten, Banken, pädagogischen Ideologen, Impfstoffherstellern, Sozialschmarotzern, Drogenhändlern. Aber darauf kommt es nicht an, Verlierer gibt es bei jeder Entscheidung. In der Volksherrschaft geht es nicht um die Frage, wer Verlierer oder Gewinner einer Entscheidung ist, sondern allein um die Ausübung des mehrheitlichen Willens des Volkes.
Im Rückblick auf die Geschichte der „Bundesrepublik“ sei daher hier die Ansicht vertreten: ja, die Bundesrepublik war bis etwa zum Ende der Regierung Helmut Kohls eine Form von Volksherrschaft, wenn auch mit Abstrichen, wobei jede Volksherrschaft in der Praxis immer nur eine Annäherung an dieses Ideal sein kann. Immerhin lässt sich in den Jahren von 1949-1998 kein der heutigen Zeit vergleichbares grundsätzliches Auseinanderklaffen zwischen dem mehrheitlichen Willen des Volkes und dem staatlichen Handeln erkennen, von der schon damals fragwürdigen Ausländerpolitik vielleicht abgesehen.
In den letzten etwa 25 Jahren allerdings zeigt sich ein stetig zunehmendes Überwiegen der diktatorischen Komponente. Was das Volk wirklich dachte und wollte, wurde für die politische Führung ab der Regierung Gerhard Schröder/ Joschka Fischer nahezu bedeutungslos. Statt sich für die Meinung und den Willen des Volkes zu interessieren, wurde seither ohne Rücksicht auf Verluste das Parteiprogramm der Grünen aus den 80er-Jahren Satz für Satz in die Tat umgesetzt. Die letzten 25 Jahre der „Bundesrepublik“ können daher nach Ansicht des Autors trotz Mehrparteiensystems und freier Wahlen nur noch sehr eingeschränkt, wenn überhaupt, als „Volksherrschaft“ bezeichnet werden, der Begriff der „Diktatur“ drängt sich mehr und mehr in den Raum.
Der tiefe Abgrund, der heute Staat und Volk in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft voneinander trennt, die Feindseligkeit, mit der der Staat auf das Volk blickt und umgekehrt – all diese für die Spätphase des Staates „Bundesrepublik“ charakteristischen inneren Zerrissenheiten, sind letztlich das Ergebnis eines bereits über 25 Jahre andauernden Abdriftens des Staates in Richtung einer Mehrparteiendiktatur, den demokratischen Kompass hat der Staat längst verloren. Volk und Staat erkennen einander nicht mehr wieder, weil der Wille des Volkes im Handeln des Staates nicht mehr zu erkennen ist.
(pi-news.net)