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Der 17. Juni 1953 in Berlin –

Ein Tag, den man nicht vergisst

Eine Erinnerung von John R. Thompson, 1953 junger Berlin-Korrespondent der New York Herald Tribune: Heute, mit 92 Jahren sind meine Schritte schwer, meine Augen trüb. Doch die Erinnerung an jenen Tag im Sommer 1953 ist geblieben, als wäre er erst gestern gewesen. Ich war ein junger Reporter, 20 Jahre alt, noch auf der Journalistenschule in New York. Mein erstes Auslandsengagement führte mich nach Berlin. Drei Monate sollte ich dort verbringen, als Assistent des erfahrenen Ed Harper, der für die New York Herald Tribune schrieb. Ed sagte nur: „Lern sehen. Nicht nur schauen.“

Berlin war damals eine geteilte Stadt – in vier Sektoren. Die Mauer kam erst 1961, aber die politische Front verlief längst mitten durch die Stadt. Berlin lag noch in Trümmern, ganze Straßenzüge waren zerbombt, Fenster klafften wie leere Augenhöhlen. Und doch: Die Stadt tastete sich zurück ins Leben. In den westlichen Sektoren gab es Kinos, Jazzklubs, amerikanische Zigaretten. Es war eine brüchige Ordnung.

Für das Politbüro im sowjetischen Sektor waren die aufstrebenden Bezirke unter amerikanischer, britischer und französischer Verwaltung ein Dorn im Auge. Zu sichtbar war der Unterschied, zu gefährlich die Versuchung abzuhauen. Wer in den Westen ging, sah Läden mit Schaufenstern, Litfasssäulen voller Werbung, Zeitungen mit freien Schlagzeilen. Für viele Ostberliner war das ein Magnet. Aber ein gefährliches. Denn Freiheit wirkte ansteckend. Die Sowjets wussten das. Und die SED auch.

Der Aufstand begann am 16. Juni. Bauarbeiter in der Stalinallee in der sowjetischen Besatzungszone legten ihre Werkzeuge nieder. Der Anlass war eine drastische Erhöhung der Arbeitsnormen. Mehr schuften, mehr Überstunden, auch samstags, aber kein zusätzlicher Lohn. Doch aus dem Protest wurde binnen Stunden ein politischer Aufschrei. Am nächsten Tag gingen in vielen Städten der DDR Menschen auf die Straße. Sie forderten freie Wahlen, Meinungsfreiheit, das Ende der SED-Vorherrschaft.

Ich stand mit Ed Harper in der Leipziger Straße, das Notizbuch in der Hand, die Finger zitternd. Die Menge rief: „Wir sind das Volk!“. Plakate wurden geschwenkt, Losungen skandiert. In diesen Momenten lag etwas in der Luft, das größer war als Wut – es war Hoffnung. Die Forderung nach Einheit war noch nicht formuliert. Aber unausgesprochen stand sie im Raum: Die Sehnsucht nach einem freien, gemeinsamen Berlin.

Dann kamen die Panzer. Sowjetische T-34, stahlgrau, schwer, mit Ketten, die den Asphalt zermalmten. Die Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst. Es wurde geschossen. Ich sah Menschen fliehen, ich sah, wie ein junger Mann zu Boden ging und regungslos liegen blieb. Mindestens 55 Menschen starben an diesem Tag. Darunter auch Jugendliche. Tausende wurden festgenommen. Es war die Polizei, die kam, Listen hatte, und die mitnahm, wen man als Rädelsführer bezeichnete. Viele verschwanden in Gefängnissen, manche wurden später in sowjetische Lager überstellt.

Ich telegrafierte nach New York, gehetzt, atemlos. Der RIAS, der Rundfunk im amerikanischen Sektor, sendete unermüdlich. Die Reportagen des Widerstands gingen um die Welt – aber die Welt blieb still. Washington schwieg. London schwieg. Auch Paris. Adenauer erklärte seine Solidarität, doch die Westmächte wagten nichts. Niemand wollte den Funken entfachen, der Europa erneut in Brand setzen könnte.

Die SED nannte es einen faschistischen Putsch. Das war die offizielle Lesart – so absurd wie kalkuliert. Was ich sah, war kein Umsturzversuch von außen, keine gelenkte Provokation. Es war ein Aufbegehren von innen. Es war das Volk, das sich erhob. Ohne sowjetische Panzer, so viel ist sicher, hätte das Regime ins Wanken geraten können. Doch die Hoffnung wurde zerschlagen, die Straßen wurden leer. Und die Angst kehrte zurück – tiefer, dichter als zuvor.

Heute, 72 Jahre später, stand ich wieder vor dem Mahnmal auf dem Friedhof Seestraße. Es wurden Kränze niedergelegt. Der 17. Juni war ein gescheiterter Aufstand – aber einer, der die Idee der Freiheit lebendig hielt. Ich war damals ein junger Mann, der lernen sollte, was Wahrheit bedeutet. Heute, nach einem langen Leben, weiß ich: Wahrheit ist kein Beruf. Sie ist eine Verpflichtung.

(Übersetzung: Meinrad Müller)
(pi-news.net)

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