»Nichtzeitungslesern« genügt die Parole: »Wir sind jung und das ist schön!«
Von Kurt Tucholsky
Unter dieser Spitzmarke, die den höchsten Triumph bekennt, dessen der Fortschritt habhaft werden konnte, stellt das zufriedene Zentralorgan der Sozialdemokratie fest, daß man die nachteiligen Wirkungen der Sensationsberichterstattung auf den »gesunden Jugendlichen« – welches Wort nach Bonzenfrohsinn schmeckt –, überschätzt habe. Denn er frißt zwar sehr viel in sich hinein, verarbeitet es aber doch nur in seiner Phantasie, nicht in seiner Moral.
Es werden also weniger Mörder als Schmöcke gezüchtet. Nun wolle jedoch »eine großzügige und objektive Randfrage des Deutschen Instituts für Zeitungslektüre« – denn das gibt es und es ist nicht bloß eine Abteilung des Instituts für kriminalistische Forschung – »noch tiefer schürfen« und festzustellen versuchen, wie es um die Zeitungslektüre des werdenden Menschen steht, dessen Geist sich erst bildet ...
Hunderttausend Fragebogen wurden ausgesandt, indem es sich ja doch von selbst versteht, daß die Jugendlichen statt des Wintermärchens die Generalanzeiger, Vorwärtse und sonstigen Papiere fressen, deren andere Bestimmung, nämlich erfrorene Füße einzuwickeln, mir kürzlich eine gutmütige Toilettefrau auf dem Prager Flugplatz vermittelt hat, die es an Menschlichkeit und Sinn für Lebensdinge mit sämtlichen Staatsmännern, Publizisten und sonstigen Mißbrauchern des technischen Fortschritts aufnehmen dürfte.
Die »Jugendlichen von zwölf bis zwanzig Jahren« wurden also ausgefragt, ob sie eine Tageszeitung und welche sie lesen, ob sie gar mehrere lesen, »welche Teile der Zeitung interessieren dich am meisten und warum«, ob die Tageszeitung im Schulunterricht herangezogen werde – denn das kommt auch schon vor – und »was hältst du persönlich von der Zeitung?«. Der Zweck dieser Fragen sei leicht ersichtlich, meint das Zentralorgan. Nicht etwa, um schon jetzt zu erkennen, daß die Gehirnmasse der Menschheit sich in fünfzig Jahren in Brei und Jauche verwandelt haben wird, sondern es sollte im Gegenteil einmal der offiziellen Einführung der Zeitungslektüre in den Unterricht vorgearbeitet werden, wie von der sozialdemokratischen Pädagogin Dr. Wegscheide-Ziegler mit guten Gründen propagiert wird.
Für die Dame, die da offenbar einen Herkulesentschluß gefaßt hat – und Vorkämpferinnen führen zumeist einen Doppelnamen – wäre ich ausnahmsweise zu sprechen. Vor allem aber soll sich »ein Bild von dem Verhältnis der Jugend unserer Zeit zur Presse« ergeben, so etwas wie ein »Querschnitt« – das liebt man jetzt – »durch die gesamte geistige Situation der jungen Generation« Ohne Zweifel muß es doch interessant sein, zu erfahren, wie viele junge Gemüter sich noch für Kerr, wie viele sich schon Hildenbrandt erwärmen, ob sie in der Politik mehr dem Wolff oder dem Hussong folgen, wie sie gierig aufnehmen, was unser O. K. am Radio erlauscht hat, und ob sie mehr von den täglichen Bulletins über Reinhardt, Jannings, Zuckmayer in Spannung gehalten werden oder durch das, was die sozialdemokratische Presse der Bourgeoisie an Schlafwagenabenteuern abzugewinnen vermochte; wie sie die Sittlichkeit von den Gerichtssaalberichterstattern und die Sprache von den Analphabeten im allgemeinen erlernt haben. Das erfreuliche Ergebnis der Rundfrage zeigt die Tatsache, daß es unter den Jungen und Mädchen von heute fast überhaupt keine »Nichtzeitungsleser« gibt.
Aber nicht etwa, daß sie bloß das »Tagerl‹, die herzige Filiale des »Tag‹, goutieren, nein, solche Kindereien überlassen sie jenen Jugendlichen, die vom Alphabet noch den ersten Buchstaben wiederholen müssen – sie fressen vielmehr alles in sich hinein, was die Erwachsenen fressen.
Von 1854 höheren Schülern zwischen zwölf und achtzehn Jahren teilen nur 27 mit, daß sie keine Zeitung lesen; 1356 sind regelmäßige, 471 unregelmäßige Leser, 437 lesen mehrere Blätter. Und mehr als 200 lesen nicht die in ihrer Familie gehaltene Zeitung, sondern ein andres Blatt, eine bemerkenswerte geistige Selbständigkeit.
Wobei es das zufriedene Zentralorgan gar nicht interessiert, ob diese Revolutionäre nicht vielleicht dem »Vorwärts‹, an dem sich die Eltern weiden, schon den »Völkischen Beobachter‹ vorziehen oder die schwerindustrielle »Börsenzeitung‹, was freilich durch die fesselnde Mitarbeit eines Wiener Genossen entschuldigt wäre.
Besonders interessant sind die Zahlen bei den Volksschülern. Von 435 Jungen einer Berliner Gemeindeschule lesen nur drei keine Zeitung, 274 lesen regelmäßig und 158 gelegentlich, offenbar im Fall des Lustmordes, 62 lesen nicht das Blatt ihrer Eltern, 56 interessierten sich ständig auch für andre Blätter.
Man muß doch auf dem Laufenden sein. Es folgt die Statistik der Volksschülerinnen, dann noch die der Berufsschüler.
Warum Zeitung gelesen wird, ist oft recht hübsch begründet ... Die politischen Argumente finden sich am meisten.
Es ergebe sich das Bild einer »Generation von werdenden Staatsbürgern«. Die UnfalIchronik wird hauptsächlich von Mädchen gelesen: Sie lesen merkwürdig gern die Berichte über die Katastrophen, Straßenunfälle, Selbstmorde, Morde und ähnliches.
Auf die Frage, warum dieses Thema sie besonders interessiert, erfolgte – nebst Mitleid und anderen Motiven – die Antwort: »Weil es so schön schaurig ist.«
Die Herren vom Institut hatten erwartet, daß Romane und Heiratsanzeigen besonders interessieren würden, aber nein, die stehen erst an neunter, respektive an vierzehnter Stelle. »Der moderne Lehrer weiß«, resümiert das Zentralorgan mit Genugtuung, die Zeitung ein unentbehrliches Hilfsmittel für jede Erziehungsarbeit darstellt ...
Ganz abgesehen von der optimistischen Dummheit, die hier stillschweigend auch die Lektüre der kapitalistischen Zeitung als proletarischen Erziehungsfaktor einsetzt, wird doch bei solcher Gelegenheit die volle Hoffnungslosigkeit einer Kulturbetrachtung plastisch, die die Verbreitung des giftigsten aller Bürgergifte, der Druckerschwärze, für einen Fortschritt erachtet und den »Jugendlichen« als eine Kreuzung von Fußballer und Schmock präparieren möchte. Unter ihnen allen aber, die dem Institut für Zeitungskunde antworten mußten, tönt nur den wenigen, die schon in früher Jugend stolz bekennen, »Nichtzeitungsleser« zu sein, glaubhaft die Parole von den Lippen, die ihnen ergraute Bonzen beigebracht haben: »Wir sind jung und das ist schön!« Denen könnte man vielleicht noch das Wintermärchen vorlesen.