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Verbrecherische Massen

Wenn Beeinflußbarkeit, Leichtgläubigkeit, Überschwang der Gefühle  Menschen erobern

Von Gustave Le Bon

Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher, unbewußter Automaten zurückfallen, die von Beeinflussungen abhängig sind, so scheint es schwierig zu sein, sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen. Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei, weil sie durch die psychologischen Forschungen üblich geworden ist. Gewisse Handlungen der Masse sind, an sich betrachtet, sicherlich verbrecherisch, aber doch nur in demselben Sinne, wie die Tat eines Tigers, der einen Hindu verschlingt, nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassen.

Die Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion, und die einzelnen, die daran teilnahmen, sind hinterher davon überzeugt, einer Pflicht gehorcht zu haben. Das ist beim gewöhnlichen Verbrecher durchaus nicht der Fall. Die Geschichte der Verbrechen, die durch die Massen begangen wurden, läßt dies klar erkennen. Als bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille, du Launay, anführen.

Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs äußerste gereizten Menge, die ihn umgab, Hiebe auf den Gouverneur. Man schlug vor, ihn zu hängen, zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden. Bei dem Versuch, sich zu befreien, versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fußtritt. Da machte jemand den Vorschlag – dem die Menge sofort zujauchzte – der Getretene solle dem Gouverneur den Hals abschneiden.

„Dieser, ein stellenloser Koch, der halb und halb aus Neugierde nach der Bastille gegangen war, um zu sehen, was dort vorging, glaubt, weil dies die allgemeine Ansicht ist, die Tat sei patriotisch, und glaubt sogar, eine Auszeichnung zu verdienen, wenn er ein Ungeheuer tötet. Man gibt ihm einen Säbel, mit dem er auf den bloßen Hals losschlägt; da aber der schlechtgeschliffene Säbel nicht schneidet, zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft
aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiß) erfolgreich seine Operation.“

Hier zeigt sich klar der früher festgestellte Mechanismus: Gehorsam gegen einen Einfluß, der um so mächtiger wirkt, weil er einer Gesamtheit entstammt, die Überzeugung des Mörders, damit eine äußerst verdienstvolle Tat getan zu haben, eine Überzeugung, die um so natürlicher ist, da er auf die einmütige Zustimmung seiner Mitbürger rechnen kann. Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich, aber nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden. Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben, die wir bei allen Massen festgestellt haben: Beeinflußbarkeit, Leichtgläubigkeit, Überschwang der guten und schlechten Gefühle, das Hervortreten gewisser Formen der Sittlichkeit usw
(Aus "Psychologie der Massen", 1895)

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