Volkstrauer- oder Volksfreundschaftstag?
Von MEINRAD MÜLLER
Die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach den Millionen von Toten und Verwundeten der beiden Weltkriege schien eine nahezu unlösbare Aufgabe. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Außenminister Robert Schuman schafften es nach langen Verhandlungen, im Jahr 1950 eine Initiative zur Versöhnung ins Leben zu rufen: den sogenannten Schuman-Plan.
Nach der Sonntagsmesse am Heldengedenktag – so wurde der Volkstrauertag früher genannt – versammelte sich die Gemeinde vor dem Kriegerdenkmal. Dieses stand neben dem Friedhof, zentral in einem bayerischen Dorf mit 700 Einwohnern. Die Namen von 62 Gefallenen waren in einen drei Meter hohen Granitblock eingemeißelt. Der Bürgermeister hielt eine Ansprache, ebenso der Pfarrer, und die Musikkapelle spielte „Ich hatt‘ einen Kameraden“.
Wir Ministranten, damals zehn bis 12 Jahre alt, bemerkten besonders, dass viele alte Männer ihre Tränen nicht zurückhalten konnten.
Deutsch-Französisches Jugendwerk
Dieser Wunsch stand über allem: „Nie wieder Krieg.“ Der Schuman-Plan enthielt auch den Appell, dass die Jugend beider Nationen sich kennenlernen sollte. So kamen wir, damals 16 bis 18 Jahre alt, aus dem Landkreis Illertissen in den Genuss einer solchen Begegnungsreise. Ein älterer Pater unseres Gymnasiums „Kolleg der Schulbrüder“ begleitete uns – er war der Einzige, der Französisch sprach.
Zum Pflichtprogramm gehörte auch der Besuch der Gedenkstätte in Verdun. 200.000 weiße Kreuze auf einem riesigen Friedhof ließen uns verstummen. Am eindrücklichsten war das Beinhaus, in dem die Gebeine von etwa 130.000 nicht identifizierten Toten, sowohl Franzosen als auch Deutschen, aufbewahrt wurden. Durch Glasfenster konnten wir die gestapelten Knochen und Schädel sehen – ein schauriger und zugleich tief bewegender Anblick.
Nie wieder Krieg
Nach dieser Erfahrung dachte wohl jeder von uns: „Nie wieder Krieg.“ Nach einer langen Fahrt, die auch die Besichtigung mehrerer Kathedralen einschloss, erreichten wir das Ziel, ein kleines bretonisches Dorf namens Carnoët. Von den Asterix-Comics mit französischer Baukunst vertraut, staunten wir über die Häuser aus riesigen Steinquadern. Die Strohdächer waren inzwischen durch Ziegel ersetzt.
Auf einem zehn Meter langen Transparent, das über die Straße gespannt war, stand jedoch nicht „Bienvenue“, sondern „Willkommen“. Diese Geste rührte uns tief. Wir, 36 Jugendliche in einem Reisebus, wurden auf dem Marktplatz mit großer Herzlichkeit empfangen.
26 Jahre nach Kriegsende
Der kreisrunde Marktplatz von Carnoët war gefüllt mit Dorfbewohnern, die uns freudig erwarteten – ein Bild, das an die Charaktere aus Asterix erinnerte. Der Bürgermeister des Dorfes wurde zwar nicht wie Majestix auf einem Schild getragen, dennoch war die Atmosphäre feierlich. Er und andere Honoratioren standen mit einer Schärpe in den französischen Nationalfarben geschmückt auf einem Podest, das mit grünen Girlanden und Flaggen dekoriert war.
Unser Dolmetscher übersetzte die Begrüßungsansprachen des Bürgermeisters und seines Stellvertreters ins Deutsche. Die Reden beschworen die Freundschaft zwischen den Völkern in beiden Sprachen. Die örtliche Musikkapelle spielte die französische Nationalhymne: „Auf, auf Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhmes, der ist da.“ Dabei wurde betont, dass es nun die Aufgabe der Jugend sei, diese Freundschaft mit Leben zu erfüllen.
Wenn aus „Erb“-Feinden Freunde werden
Dieser Aufruf ließ uns nicht kalt. Doch die Freundschaft sollte nicht gleich so weit gehen, dass sie nach neun Monaten sichtbare Folgen hätte. Dennoch entspann sich binnen zehn Tagen so manche Liebelei. Wir wurden in Zweiergruppen (gleichgeschlechtlich!) auf 18 Bauernhöfe verteilt, wo wir gemeinsam bei gleichaltrigen Jugendlichen der Gastfamilien untergebracht waren. Auf meinem Hof gab es einen mittelalterlichen Ziehbrunnen, aus dem morgens Wasser hochgekurbelt werden musste – eine notwendige Hilfe, um den damals zarten Bartwuchs zu bändigen.
Die Verköstigung war rustikal: Eselswurst, Muscheln, Café au Lait mit Baguette und „Coq au Vin“ (Hahn in Rotwein) gehörten zu den kulinarischen Besonderheiten. Besonders in Erinnerung blieb der Rotwein, der bereits beim Frühstück serviert wurde und unsere Tage beschwingt einleitete.
Die Reise war mehr als nur ein Austauschprogramm – sie war eine echte Annäherung. Sie hat uns gezeigt, wie aus einst verfeindeten Nationen Freunde werden können, wenn die Jugend Brücken schlägt.
Am Tag der Heimreise versammelten sich die Gastgeber und Gäste wieder auf dem Marktplatz. Besonders in Erinnerung blieben die herzlichen Umarmungen, die ungezählten Küsschen auf die Wangen und die Abschiedstränen, die in Strömen flossen. Diese Erlebnisse berührten mich so tief, dass mich 25 Jahre später meine Hochzeitsreise zurück nach Carnoët führte.
(pi-news.net)