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„Organisierte Veranwortungslosigkeit“

Die Bahn ist ein Spiegel des Niedergangs Deutschlands

Von Vera Lengsfeld

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Dieser Spruch entstand zu einer Zeit, als Reisen noch gefährlich war, weil Reisende mit Überfällen, schlechten Straßen und allerlei Unbill zu kämpfen hatten.

Heutzutage ist das glücklicherweise vorbei, sollte man denken. Und nein, ich will jetzt nicht darüber schreiben, dass man inzwischen in der Bahn nicht mehr vor Messer-Attacken sicher ist. Es geht mir um das ganz normale Funktionieren eines Unternehmens, das vor Jahrzehnten mit dem selbstbewussten Spruch für sich warb: „Alle reden vom Wetter – wir nicht“. Noch 1988 konnte man in der BRD nach der Bahn die Uhr stellen. Damals handelte es sich um ein gut funktionierendes Unternehmen, das stolz auf seine Leistungskraft und Zuverlässigkeit war. Tempi passati.

Als Vielfahrerin ist mir schon alles passiert. Ich stand auf einem Bahnhof und der Zug, für den ich online eine Stunde zuvor eine Fahrkarte gekauft hatte, kam einfach nicht. Hinterher erfuhr ich, dass dies auf dieser Strecke öfter vorkam, denn ein Stellwerk konnte nicht immer besetzt werden. Das war Anfang Dezember letzten Jahres. Auf die Rückerstattung des Fahrkartenpreises warte ich heute noch. Irgendwann wurde mir eine Entschuldigung für die Verzögerung und eine Tabelle geschickt, wie sehr sich die Reklamationen gehäuft haben. Das ist schon wieder Monate her, das Geld noch immer nicht überwiesen.

Vorsicht, wenn man eine Fahrkarte online bucht und eine Rückfahrt hinzufügt. Dann ist es unmöglich, die Rückfahrt zu stornieren oder umzubuchen, denn es gelten die Fristen für die Hinfahrt, auch wenn die Tage oder Wochen zurückliegt, und es sich um zwei separate Tickets handelt.

Am Mittwoch, dem 21.6., stand ich auf dem Bahnhof in Leipzig und wollte nach Erfurt. Der ICE, den ich gebucht hatte, fiel aus. Als ich mit einem anderen Zug in Erfurt ankam, hörte ich eine Lautsprecher-Durchsage, dass der erwartete Zug nach Sangerhausen nicht käme, der Lokführer wäre kurzfristig ausgefallen. Inzwischen geht es bei der DB zu, wie im Lied vom Hans: „Heut kommt der Hans zu mir, freut sich die Lies. Ob er aber über Oberammergau, oder aber über Unterammergau, oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss.“ Der DB ist das nicht mal mehr peinlich.

Sonntag, am 25.06., musste ich erleben, dass dies alles noch zu toppen ist. Ich saß im ICE 79, der um 13.16 in Berlin- Gesundbrunnen startete. Kurz hinter Leipzig blieb der Zug auf freier Strecke stehen. Nach etwa zehn Minuten kam die Ansage, dass es ein Stromproblem gäbe, das aber behoben würde. Tatsächlich fuhr der Zug nach einiger Zeit wieder an, beschleunigte auf 223 km/h, bremste dann und blieb wieder stehen. Es war 15.03 Minuten. Diesmal kam die Durchsage ziemlich schnell. Das Stromproblem wäre wieder aufgetreten, könne nicht mehr behoben werden. Der Zug müsse evakuiert werden. Der Lokführer hätte alles eingeleitet.

Wir befanden uns etwa 10 Fahrtminuten von Leipzig entfernt. Da die Klimaanlage ausfiel wurde die Luft im überfüllten Zug – die Fahrgäste standen in allen Waggons zwischen den Sitzreihen, zum Schneiden. Die Temperatur stieg schnell auf über 30°C. Der Schaffner versprach, die Türen zu öffnen, was nach einiger Zeit auch gelang. Aber sie mussten auf Anweisung eines Bürokraten, der in seinem vermutlich klimatisierten Office saß, wieder geschlossen werden. Das rief einige Ärzte im Zug auf den Plan, die erreichten, dass der Leitstelle klar gemacht wurde, dass binnen kurzem im Zug die ersten Leute wegen Hitze und Sauerstoffmangels kollabieren würden. Daraufhin wurden die Türen auf einer Zugseite wieder geöffnet.

Nur die Kollegen vom Bordbistro verhielten sich der Lage angemessen. Sie verteilten ihre gelagerten Getränke mit Hilfe der an Bord befindlichen Soldaten und Polizisten an die Passagiere.

Nach zweieinhalb Stunden hieß es, der Evakuierungszug wäre da, er könnte aber erst neben unserm Zug halten, wenn die Türen wieder geschlossen wären. Das geschah, aber es kam kein Zug. Nach zwanzig Minuten, dem Lokführer war es inzwischen wenigstens gelungen, die Klimaanlage zu reaktivieren, hieß es, der Evakuierungszug würde „in Kürze“ einfahren. Zehn Minuten später verkündete der Lokführer, der Zug wäre zu uns „unterwegs“.

Zehn Minuten nach 18.00 Uhr hielt tatsächlich ein ICE neben uns. Der war aber halb besetzt. Es war klar, dass nicht alle Passagiere aus unserem Zug umsteigen könnten. Die Evakuierung dauerte dann über eine Stunde. An nur zwei Stellen konnten wir über Notleitern den Zug verlassen und über eben solche Leitern den andern Zug erklimmen. Wären die Soldaten und Polizisten nicht gewesen, hätte das Ganze noch viel länger gedauert. Mit dem Personal allein wäre es kaum zu schaffen gewesen.

Wie zu erwarten war, blieben hauptsächlich ältere Leute im Zug zurück. Die Rede war von etwa 40 Personen, überprüfen konnte das keiner.

Wir fuhren um 19.16 in Richtung Erfurt ab. Über Durchsage erfuhren alle Reisenden nach Süddeutschland und der Schweiz, dass ein Ersatzzug in Erfurt bereitgestellt würde, allerdings erst eine Stunde nach unserer Ankunft. Ich weiß nicht, ob dieser Zug wirklich zur angegebenen Zeit einfuhr, oder erst später, denn ich musste froh sein, dass ich den letzten Zug nach Nordhausen um 20.16 noch erreichte. Wenn das Ganze noch eine halbe Stunde länger gedauert hätte, wäre ich auf den Schienenersatzverkehr angewiesen, der statt der 55 Minuten zweieinhalb Stunden nach Sondershausen gebraucht hätte.

Im einst um seine Effektivität weltweit beneideten Deutschland geht es inzwischen zu, wie in der DDR. Der Regimekritiker Rudolf Bahro nannte es „organisierte Verantwortungslosigkeit“.

Aber, auch das konnte ich beobachten, die Leute haben sich schon so weit an die Dysfunktionalität gewöhnt, dass sie kaum noch erwarten, dass effektiv und verantwortungsbewusst gehandelt wird. Wenn es zehn Zugminuten von Leipzig entfernt vier Stunden dauert, ehe die Passagiere aus dem Pannenzug geborgen werden, fragt man sich bange, was passiert, wenn ein wirklicher Notfall eintritt.

Mir sind schlagartig die Probleme der ICE-Hochtechnologie vor Augen geführt worden. Wenn der Strom ausfällt, sitzt man wie in einer Blechbüchse. Die Fenster sind nicht zu öffnen, die Türen von den Passagieren auch nicht. Zum Glück blieb die überwiegende Mehrzahl der Reisenden ruhig. Ein Saxofonist packte sogar sein Instrument aus und gab ein spontanes Ständchen. Nur zwei Fahrgäste fingen an, zu schreien, konnten aber schnell beruhigt werden. Wenn eine Panik ausgebrochen wäre, hätte es Tote gegeben.

Ich sehnte mich nach den guten alten D-Zügen, in denen sich die Fenster manuell öffnen ließen und auch die Türen kein Hindernis darstellten. Die Politik der Stromverknappung, die unsere gegenwärtige Regierung betreibt, ist hochgefährlich, denn moderne Hochtechnologie ist auf zuverlässigen Strom angewiesen. Wenn es den nicht mehr gibt, sind Katastrophen vorprogrammiert.

Ich bin gespannt, wie die Bahn auf die Rückforderung meines Ticketpreises reagiert. Vermutlich wird es so ausgehen, wie bei den anderen Tickets, bei denen ich das Geld nicht zurückbekommen habe. Wo sollte auch der Profit herkommen, wenn man sich für sein Versagen in Haftung nehmen ließe?
(vera-lengsfeld.de)

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