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Wir hatten die Chance…

Der 4. November 1989 aus heutiger Sicht

Von RAINER K. KÄMPF

In Berlin macht sich die politische Klasse mal wieder der kulturellen Aneignung schuldig. Den 4. November 1989. Den Tag, der die DDR veränderte, der Deutschland veränderte und das Leben, dessen Entwürfe und Verlauf von Millionen Menschen.

Etwas, was uns betrifft, woran die heutigen Totengräber des danach geeinten Deutschlands nicht den geringsten Anteil hatten. Also, einfach mal die Klappe halten.

Und um es gleich vorwegzuschicken: Wir wollten damals den zweiten deutschen Staat verändern, reformieren. Sicher demokratisch. Aber Eure Demokratie und deren entartete Auswüchse, das wollten wir garantiert nicht.

Es waren damals auf dem Berliner Alexanderplatz auch keine Rufe nach einer Wiedervereinigung zu hören. An die glaubten vielleicht ein paar Exoten, der aufgewühlte Demonstrant jedoch nicht.

Dieser 4. November öffnete ein Fenster, um uns zu zeigen, was von da ab möglich sein könnte. Wir hatten die Chance, einen Kurs einzuschlagen, der sicher in Richtung einheitliches Deutschland geführt hätte. Nur wäre es dann eine Vereinigung gewesen und kein bedingungsloser Beitritt unter Aufgabe unseres damaligen Landes. Und nein, hört auf, jetzt zu argumentieren, wir wären wirtschaftlich am Ende gewesen. Die DDR war der stärkste RGW-Staat (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe). Sehen wir uns 2024 andere an, Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen, so sind sie nicht im Siechtum versunken. Im Gegenteil: die entbehren mancher Sorgen, die uns derzeit quälen.

Wir waren auch nicht arm. Unser Grundbesitz umfasste rund 108.000 km². Wir waren Millionen richtige echte Fachkräfte. Gebildet, ausgebildet, mit dem Willen zur Leistung und der Flexibilität. Unsere Städte waren sicher, die Kinder lernten in der Schule rechnen und vernünftig deutsch lesen, schreiben und sprechen. Klar, wir hatten auch eklatanten Mangel. Mit lediglich zwei Geschlechtern waren wir deutlich eingeschränkt, nutzten aber die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, um den sozialistischen Alltag einfallsreich aufzupeppen.

Die Wahlen hatten so ungefähr den gleichen Effekt wie heute, wobei die Konformität der Ergebnisse die Behörden enthob, zuweilen die Bilder in den Amtsstuben zu wechseln. Am allgemeinen Verlauf änderte sich damals wie heute nichts.

Der Tag sollte für uns Ehemalige auch kein Tag des Jubels sein. Ein Tag der stillen Einkehr und der Reflexion. Heute wissen wir um die Fehler und Versäumnisse. Wir haben nicht vergessen, welche Kraft Hunderttausende ausstrahlen. Wir wissen, dass wir das können. Wirklich?
(pi-news.net)

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